Christentum contra Wohlfahrtsstaat

(Eigentümlich frei – Glaube und Ökonomie – Nr. 69, Januar/Februar 2007)

Sieben Thesen eines praktizierenden Theologen

1. Nächstenliebe

Nächstenliebe ist ein Schlüsselbegriff jüdischen und christlichen Glaubens. Er bezeichnet ein Ereignis zwischen Menschen, bei dem es Geber und Empfänger gibt. Jeder Mensch befindet sich mal in der Geber-, mal in der Empfängerrolle. Das Empfangene kann Zeit, Kraft, Worte, Trost oder Materielles sein. Der barmherzige Samariter (Lukas 10) zeigt die Spannweite von der Nothilfe bis zur Überbrückungsspende zugunsten dessen, der in Schwierigkeiten geraten war. Für ernsthaftere Schwierigkeiten kann es sinnvoll sein, institutionell vorzusorgen. Hausbrand, Invalidität oder der Verlust der Eltern bei Kindern können solche Vorsorge rechtfertigen. Das ändert jedoch nichts am Grundsatz, dass Nächstenliebe und Solidarität zwischenmenschliche Ereignisse sind. Institutionelle Hilfestellungen sind immer nur unterstützend. Erklärt ein Gesetzgeber sie für vorrangig, so mag er die Argumente dafür suchen, wo er will. Bei der jüdisch-christlichen Ethik sind sie auf jeden Fall nicht zu finden.

2. Freiheit

Der Wohlfahrtsstaat vernichtet Freiheit. Befreiung war jedoch das Leitmotiv beim Auszug der Israeliten aus Ägypten, der als Geburtsstunde des Judentums gilt. Der Auszug war gewiss auch eine religiöse Abwendung von Götzen- dienst und Totenkult. Nicht minder war er jedoch die Abwendung von einer zentralistischen Staatswirtschaft, wo das Individuum missachtet, natürliche Gemeinschaften zerschlagen und Nahrungsmittel von der Bürokratie zugeteilt wurden. Ägypten bedeutete Gehorsam ohne Freiheit. Die Alternative, in welche Gott die Israeliten führte, war nicht etwa Freiheit ohne Gehorsam, sondern die Freiheit im Gehorsam gegenüber Gott und seinen Geboten. Auch Jesus Christus sagt: Wenn ihr in meinem Wort bleibt, seid ihr wahrhaftig meine Jünger, und ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen (Johannes 8, 31f.). – Der Wohlfahrtsstaat könnte dem ägyptischen und dem babylonischen Zwangsstaat bald näher stehen als dem Gemeinwesen der Zehn Gebote, wo das Individuum angesprochen („Du sollst…“), Freiheit gewährt und Recht über Macht gesetzt wird. Wer sich biblisch-theologisch orientiert, muss ausziehen oder aber dieses Zwangssystem umwandeln.

3. Eigentumsrecht

Der Wohlfahrtsstaat missachtet das Eigentumsrecht. In vielen Ländern, auch in Deutschland, nähert sich die Quote der obligatorischen Abgaben der 70-Prozent-Marke. Das bedeutet eine permanente Verletzung des Grundgesetzes durch den Staat. In den Zehn Geboten kommt das Thema Eigentum gleich zweimal vor, was seinen hohen Rang illustriert. In den Gleichnissen Jesu wird das Eigentum als Bestandteil der Rechtsordnung vorbehaltlos vorausgesetzt: Böse Weingärtner (Markus 12), Unkraut unter dem Weizen (Matthäus 13), Arbeiter im Weinberg (Matthäus 20), anvertraute Gelder (Lukas 19), Schuldner (Lukas 7). Zwar kennt die Bibel massive Vorbehalte gegenüber dem Eigentum, doch sind diese in keiner Weise als Programm zur Enteignung aufzufassen. Sie sind vielmehr ein Appell, sein Herz nicht an den Besitz zu hängen. Dies kann nur aus freien Stücken geschehen. Je mehr Eigentum die „Sozialpflichtigkeit“ fordert, desto mehr Schub erhält die Habgier.

4. Moral

Der Wohlfahrtsstaat bestraft Fleiß und belohnt Drückebergerei, vernichtet somit Moral. Wie andere Irrtümer, so begann auch der Wohlfahrtsstaat im Land der edlen Absichten und guten Taten, nämlich bei der Pflicht, für Behinderte und Kranke einen Ausgleich zu schaffen. Sobald dieser Ausgleich über Superstrukturen abgewickelt wurde, erwachte der Hunger nach Macht. Eine Koalition aus Bürokraten, Gutmenschen, Betreuerlobbys und Neidern verwandelte gezielte Hilfe in flächendeckende Umverteilung. Die ersten Schritte erfolgten so unmerklich wie die Rutschpartie von einigen Pfund Schnee, bevor ein ganzes Tal verschüttet wird. Der Lawineneffekt bei der staatlichen Umverteilung wurzelt im zwischenmenschlichen Vergleich. Der Vergleich weckt den Verdacht, andere bekämen trotz gleicher oder womöglich besserer Lage mehr als ich. Die Frage, wie ich mein und meiner Angehörigen Auskommen sichere, mutiert zur Suche nach Zapfstellen für staatliche Leistungen. Der real existierende Mensch hat leider nichts gemein mit dem Phantombild der Etatisten, sondern ist als Sünder gerne bereit, sich mit unlauteren Mitteln Vorteile zu verschaffen. Das süße Gift des Wohlfahrtsstaates narkotisiert den Rest, der vom Gewissen allenfalls übrig blieb. Das zeigt allein schon der frivole Umgang mit der Staatsverschuldung, diesem Beutezug auf die Güter der Nachkommen.

Der Wohlfahrtsstaat bestraft Fleiß und belohnt Drückebergerei, vernichtet somit Moral. Wie andere Irrtümer, so begann auch der Wohlfahrtsstaat im Land der edlen Absichten und guten Taten.

5. Herausforderungen und Vitalität

Der Wohlfahrtsstaat beseitigt Herausforderungen und raubt den Menschen Vitalität. Es grenzt an Schizophrenie, wenn ganze Kontinente sich am Bildschirm vom Spitzensport, wo nur hartes Training zum Erfolg führt, faszinieren lassen und zugleich den Abhärtungen des realen Lebens ausweichen – vorzugsweise auf Kosten anderer. Die ukrainische Schriftstellerin Oksana Sabuschko hält das Unglück, die Niederlage und den Tod für einen gewichtigen Teil des Lebens. Der Weg zu dieser Erkenntnis, falls er wie im Osten über den Zusammenbruch führen sollte, ist lang. Eine Abkürzung ist nur über den unverzüglichen und schonungslosen Sozialabbau möglich. Was als sozialer Kahlschlag denunziert wird, braucht jedoch keiner zu sein. Der Kernbereich des Sozialstaates, nämlich die Hilfestellungen für Behinderte und Kranke, ist beizubehalten. Der Wegfall zahlreicher Leistungen wird ungeahnte Kräfte freisetzen und eine Renaissance der Eigenverantwortung, der Solidarität und der Ethik auslösen.

6. Fremdenfeindliches und rassistisches Potential

Der Wohlfahrtsstaat aktiviert das fremdenfeindliche und rassistische Potential, das in jeder Gesellschaft schlummert. Sobald ein Staat für den Lebensunterhalt seiner Bürger maßgeblich Verantwortung übernimmt, wird er zum Übervater. Die Grenze zwischen dem, was des Kaisers und dem, was Gottes ist, wird verwischt. Diesen Mechanismus haben viele Diktaturen schlau und schamlos ausgenützt. Die NSDAP erfand unter anderem den „Generationenvertrag“, also das Umlageverfahren, das aus freien Bürgern abhängige Untertanen macht. Dietrich Bonhoeffer wusste sehr wohl, weshalb er einen nichtkreativen Staat forderte. Durch Kreativität, also Wertschöpfung und Güterverteilung, gerät der Staat in einen Zielkonflikt mit seinem Kerngeschäft, das Recht sowie die Gleichheit vor dem Gesetz zu schützen. Der Staat als Ernährer wird leicht zum Räuber. Wer die gigantischen Umverteilungsströme des größten Massenraubmordes ausblendet, sollte vom Holocaust schweigen. Rassismus und Fremdenfeindlichkeit treiben überall ihre Blüten, wo der Staat Eigenverantwortung und Freiheit wegdrückt. Das belegt Russland ebenso wie die neuen Bundesländer, oder auch jener sozialistische Politiker, der Ausländer mit Schädlingen („Heuschrecken“) verglich. Wen kann das eigentlich überraschen, wenn doch Wohlstand mit Heimat konnotiert ist in Zeiten, da der Kuchen kleiner wird? Es geht ja nur darum, missliebige Konkurrenten vom vaterländischen Kuchen fernzuhalten.

7. Besorgtheit

In der Besorgtheit der Menschen findet der Wohlfahrtsstaat den Haken, wo er sich festmachen kann. Zur Sorge gibt es immer Gründe, auch wenn das Risiko, sein Leben frühzeitig zu verlieren, noch nie so gering war wie in der westlichen Zivilisation der Gegenwart. Niedrig ist auch das Armutsrisiko, sofern man die Armutsgrenze nicht beliebig in die Höhe schraubt. Die Besorgtheit entsteht offensichtlich in den Köpfen und Herzen unabhängig von den Risiken. Besorgte Herzen sind für den Wohlfahrtsstaat eine leichte Beute. In Wahrheit leistet er das Gegenteil dessen, was er sollte: Je mehr Risiken er beseitigt oder mildert, desto höher steigen die Besorgnis und der Anspruch auf Sicherheit. Mittlerweile ist ausgerechnet dieser Anspruch zu einem der größten Armutsrisiken geworden. Denn Mindestlöhne, Mieterschutz, Kündigungsschutz und Besitzstandswahrung ersticken Investitionen und Innovationen. Im Evangelium sind Sorgen und maßlose Sicherheitsansprüche Antipoden des Glaubens. Der reiche Kornbauer, der seine Scheune vergrößert, wird Dummkopf gescholten (Lukas 12); die Betrachtung der Vögel des Himmels sowie der Lilien des Feldes münden in die Ermutigung, sich nicht zu sorgen (Matthäus 6). Dass die christlichen Kirchen und ihre Wortführer den grundlegenden Konflikt zwischen dem Wohlfahrtsstaat und dem Evangelium verdrängen, ist bestürzend. Denn in der Abwendung vom Wohlfahrtsstaat, und sei es auch bloß durch alljährliche Kürzungen um einige Prozent, liegt der Schlüssel für mehr Vertrauen, mehr Menschlichkeit, mehr Lebensfreude und nachhaltigen Wohlstand.

Peter Ruch:
Jg. 1951, geboren in Basel, Berufslehre als Radio- und Fernsehelektroniker, anschließend Maturität (Abitur); Studium der evangelischen Theologie in Basel und Montpellier, kurze Stellvertretungen in Frankreich, 1982-91 Pfarramt in Pfyn-Weiningen (Thurgau) mit diversen Nebenämtern; seit 1991 Pfarrer in Schwerzenbach, Kanton Zürich, in der Schweiz.

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