Carte Blanche in Schweizer Monatshefte
Nachdem ich zusammen mit meiner Frau zur Überzeugung gelangt war, dass 25 Jahre im gleichen Einzelpfarramt zu lang sein könnten, begann ich mich anfangs 2007 in anderen Kirchgemeinden zu bewerben. Ein paarmal kam ich in die engere Auswahl und durfte mich vorstellen. Viel häufiger wurde ich schon auf dem Korrespondenzweg ausgeschieden, meist aufgrund des Alters. Schliesslich fand ich eine Gemeinde, zur der ich passte, und wurde Ende Mai 2008 gewählt.
Als Pfarrer der evangelischen Landeskirche arbeite ich in einer halbstaatlich geschützten Werkstatt und bin privilegiert. Bei der Stellensuche vermochte ich daher nur von ferne ein wenig zu erahnen, wie es Leuten ergehen mag, die unter den Gesetzen der Ökonomie eine Stelle suchen oder halten müssen. Ich denke etwa an eine tüchtige Buchhändlerin, die gut ein Jahr vor der Pensionierung entlassen wurde, weil die Buchhandlung seit einigen Jahren rote Zahlen schrieb und den Weg vieler anderer Buchhandlungen in die Liquidation vermeiden wollte. Die entlassene Buchhändlerin war in ihrem Selbstwertgefühl irritiert, begann aber allmählich den Freiheitszuwachs zu entdecken und zu geniessen. Sie hatte das Gefühl, mit einem blauen Auge davongekommen zu sein. Eine Rückkehr in den Arbeitsmarkt gab es für sie nur theoretisch; sie musste sich aber dennoch, so die Vorgaben der Regionalen Arbeitsvermittlung RAV), aktiv bewerben.
Völlig anders lag der Fall eines Mannes Mitte dreissig, der seit geraumer Zeit ausgesteuert war, seine Tage mit Bier und Gratiszeitungen zubrachte und gegenüber anderen Menschen freundlich und hilfsbereit war. Das zuständige Gemeindeorgan wollte ihn in einen Entzug schicken. Als er dies ablehnte, fehlte vom Gesetz her jede Möglichkeit, Druck auszuüben. Was ist das für ein System, das einem alkoholkranken Menschen die notwendige Hilfe verweigert und blosse Existenzsicherung betreibt? Ist das vielleicht ein Hinweis darauf, dass die Suchtkrankheit ein gesellschaftliches Phänomen geworden ist?
Nochmals anders war es bei jenem Mann, der bei einem grossen Dienstleistungsbetrieb seine Stelle verlor, aber weiterhin pünktlich das Haus verliess, um sich selbst, seiner Frau und schliesslich nur noch den Nachbarn den courant normal vorzutäuschen. Ein aufreibendes Rollenspiel. Es mag nach Komik aussehen, ist jedoch Tragik, nicht nur für den Betroffenen, sondern auch für eine Werteskala, die den Menschen allzusehr nach Erfolg und Nützlichkeit beurteilt.
Die Presse und ihr Publikum lieben Geschichten erfolgreicher Menschen, auch solcher, die von weit unten kommen. Das berufliche Stolpern erhält in den Illustrierten nur wenig Raum, es sei denn, wenn Opfer zur Beschuldigung von Tätern aufgeboten werden. Dass es in der Wirtschaft Fahrlässigkeit und somit Täter gibt, ist wohl wahr. Unwahr ist jedoch das romantische Klischee, bei fehlerfreier Führung würde der Wohlstand immer weiter zunehmen und die Wirtschaft immer weiter wachsen. Und wahr ist überdies, dass ein Teil des Wirtschaftsversagens Staatsversagen ist.
Der Misserfolg und der Abstieg, nicht zu reden vom Konkurs, bleibt oft an den Betroffenen hängen wie eine unheilbare Infektion. Als ob es in der Ökonomie anders zugehen könnte als in Ehe und Familie, in Nachbar- und Verwandtschaft, beim Hobby und Sport. Vielleicht sollten wir von den Amerikanern einen lockereren Umgang mit diesen Dingen lernen, wo wir doch sonst so vieles von ihnen imitieren. Die Gesetze der Ökonomie lassen sich nicht ungestraft aushebeln. Gerade deshalb sollten wir versuchen, gnädiger mit uns selber und miteinander zu sein. Gnädiger angesichts von Misserfolgen und Abstiegen. Nur wer Gnade erfährt und Gnade gewährt, kann dort, wo es nötig ist, Druck ausüben, um Sanierung, Heilung und Rückkehr zu ermöglichen.