Liberaler Gesprächskreis mit Pfarrer Peter Ruch

Peter Ruch, evangelisch-reformierter Pfarrer in Küssnacht am Rigi, sprach am 20. November 2014 an der Universität Zürich im Rahmen des Liberalen Gesprächskreises zum Thema „Christentum und Sozialstaat“. Zu Beginn stellte der Referent die These auf, dass sich der Sozialstaat entgegen seiner gut gemeinten Absichten zum planwirtschaftlichen Versorgungsstaat entwickeln kann – mit allen seinen negativen Konsequenzen der Überregulierung, der Eingriffe in das Privatleben, der Ressourcen- und Mittelverschwendung und der masslosen Umverteilung.

Historisches Vermächtnis des Sozialstaats

Im Gegensatz zur Schweiz, wo die staatliche AHV nach dem Zweiten Weltkrieg eingeführt wurde, kam die Idee des Sozialstaats in Deutschland deutlich früher auf. Das hing auch damit zusammen, weil Deutschland stärker von den Auswirkungen der Französischen Revolution betroffen war – die alten Herrscher mussten entsprechend mit neuen gesellschaftlichen Konzepten aufwarten, um ihre Stellung auch weiterhin legitimieren zu können. Dies ging so weit, dass vom Staat und von seiner Bürokratie der höchstmögliche Wohlstand aller Bürger gefordert wurde. Unter Bismarck erlebte der Sozialstaat sodann einen ersten Höhepunkt: Der Staatssozialismus sollte in Form einer Beruhigungspille für die revolutionären und anarchistischen Kräfte jener Zeit dauerhafte Entfaltung finden. Daran hat sich bis heute nichts geändert.

Sozialstaat bedeutet immer auch Interventionismus: Umverteilung, Steuerprogression, Preisbremsen, Korporatismus, Schutzzölle, Wirtschaftskriege etc. Die Folgen der Sozialgesetzgebung entluden sich schliesslich – vor dem Hintergrund tiefer gesellschaftlicher Spannungen – im Ersten und in der Folge auch im Zweiten Weltkrieg. Der Sozialstaat führte seinerseits zu einem stärkeren Band zwischen den Arbeitern und dem Staat, welches in kriegerischen Auseinandersetzungen noch dienlich sein sollte.

Sozialstaat – Umverteilung von allen Seiten

Der heutige Sozialstaat entspricht der Theorie über den Interventionismus, wie sie beispielsweise von Ludwig von Mises beschrieben wurde. Eine staatliche Intervention folgt auf eine vorausgehende Intervention usw. usf. Es muss an allen Stellschrauben gedreht werden, ohne damit irgendeine Ursache der eigentlichen Probleme des Sozialstaats zu lösen. Seit Jahren steigen die Sozialausgaben ununterbrochen, so Ruch. 1990 waren es noch 65 Mrd. Franken, heute sind es 150 Mrd. Franken pro Jahr. Die Wirtschaft – gemessen am Bruttoinlandprodukt – wuchs nur mit halber Geschwindigkeit in dieser Phase. Das „Steckenpferd“ des Sozialstaats, die Altersvorsorge, verschlingt so Unmengen an Geld, dass die staatliche Verschuldung heute nur noch über Inflation abgebaut werden kann. Dies trifft alle Bürger eines Staates, vor allem aber die künftigen Generationen. Dazu tritt die systembedingte Umverteilung von der jüngeren zur älteren Generation in der Altersvorsorge. Der Referent erkannte darum – mit Verweis auf kürzlich gemachte Aussagen des ehemaligen tschechischen Staatspräsidenten Vaclav Klaus – einen fliessenden Übergang zwischen Sozialstaat und Sozialismus. Dies entspricht auch den bereits 1944 gemachten Feststellungen des Nobelpreisträgers Friedrich August von Hayek in seinem Buch „Der Weg zur Knechtschaft“. Auch der Schweizer Bürger arbeitet heute bis Mitte Jahr, um seine Steuern und Abgaben leisten zu können. Ob dies noch gerecht sei, fragte der Referent in rhetorischer Weise die Teilnehmer des Gesprächskreises.

Eine kleine Geschichte des Sozialismus

Der Sozialismus ist viel älter als die Idee des Sozialstaats. Bereits aus dem Mesopotamien des 4. Jahrtausend vor Christus kennen wir erste Staatswesen, welche wesentliche Merkmale mit dem modernen Sozialismus teilen: Beispielsweise wurde dort die Wirtschaft zentral verwaltet, Besitz verboten und die Menschen wurden zu körperlicher Arbeit gezwungen. Ein anderes Beispiel ist das Inka-Reich in Südamerika, wo das Oberhaupt, der „Inka“, über Land, wirtschaftliche Güter und Menschen nach seinem Belieben verfügte. Auch das Privatleben der Menschen war reglementiert, die berufliche Zukunft jeden Bürgers stand zum Vornherein fest. Die Idee des Sozialismus wurde politisch-philosophisch erstmals in der Antike erfasst: Platon leistete die Vorarbeit mit seiner Schrift über den idealen Staat („Politeia“). Diese Ideen fanden schliesslich auch Absatz innerhalb des Christentums. Im Mittelalter entstand eine religiöse Bewegung, die Katharer (auch Albigenser, Patarener oder Manichäer genannt), welche sozialistische Prinzipien, wie beispielsweise den Gemeinbesitz, vertraten. Im 16. Jahrhundert verfasste sodann Thomas Morus sein Werk „Utopia“, in dem er den Idealstaat, basierend auf sozialistischen Fundamenten, beschrieb. Ähnliche Werke wurden in den folgenden Jahrhunderten immer wieder geschrieben, beispielsweise „Der Sonnenstaat“ von Campanella und „Das Gesetz der Freiheit“ von Gerard Winstanley. Diese Werke teilen sich ein Menschen- und Gesellschaftsbild, das von absoluter Kontrolle bis in die letzten Einzelheiten des Lebens geprägt ist. Nach liberaler Auffassung handelt es sich dabei wohl eher um Dystopien. Um die Revolutionsjahre des 18. und 19. Jahrhunderts bildeten sich schliesslich säkulare und laizistische Strömungen, welche den Umsturz der Gesellschaft zum Ziel hatten, um sie anschliessend nach sozialistischem Vorbild zu konstruieren. Auch Religion und Familie hatten innerhalb dieser Gedankenspiele keinen festen Platz mehr. Der Referent kam darum zum Schluss, dass der Sozialismus, obwohl nach traditioneller Auffassung eine der drei grossen Ideologien des 19. Jahrhunderts, epochenungebunden sei. Er verkörpere einen „politischen Urinstinkt“ der Menschen. In seinen Ausprägungen komme er als demokratischer Sozialstaat vor, aber auch als monolithische Diktatur. Er setze aber in jedem Fall auf die Macht und die Fürsorge des allwissenden Staates. Eine Gegenbewegung entstehe erst, so Ruch, wenn die Schmerzgrenze erreicht ist oder wenn das System kollabiert – was aufgrund ökonomischer Gesetze irgendwann zwangsläufig geschehen muss.

Das Verhältnis des Christentums zum Sozialismus

Die Forderung nach materieller Gleichheit steht am Ursprung jeder sozialistischen Strömung. Es gibt viele ökonomische und kulturelle Gründe, die aufzeigen, dass diese Forderung gefährlich ist und im endgültigen Resultat sogar tödlich sein kann. Der historische Sozialismus mit seinem millionenfach verursachten Elend dient als Anschauungsbeispiel dafür. Der Sozialismus ist denn auch eine instinktive Ideologie, welche Lernprozesse aufgrund historischer Ereignisse geradezu ausschliesst. Sie lebt zudem von einem „Pathos der Erlösung“ im irdischen Diesseits.

Wie äussern sich denn die Heiligen Schriften des Juden- und Christentums zu den sozialistischen Ideen und speziell zum Sozialstaat? Der Staat sei im Alten Testament keine relevante Grösse, so der Referent. Ägypten, das Sinnbild für einen autoritären Staat in der Bibel ist und das die Israeliten zur Sklaverei zwang, war zunächst ein Nothelfer, welcher die Menschen jedoch leicht vom autoritären Regime abhängig machen sollte. Als Samuel, der letzte Richter der Israeliten, das Volk davor warnte, einen eigenen König zu bestellen, hörten die Menschen nicht auf ihn. Das israelitische Königtum war denn auch nach dem Modell der ägyptischen Despotie gestaltet – im kleinen Massstab.

Die landläufige Meinung geht dahin, dass die Bibel eine kritische Haltung gegenüber dem Eigentum einnimmt. Die Bibel hat durchaus ihre Stellen, die auf eine solche Interpretation schliessen lassen (z.B. die Aussage Jesu „Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr als ein Reicher ins Reich Gottes.“). Letztlich ist Gott – und nicht ein Mensch – Eigentümer allen Grundes. Die biblischen Vorbehalte gegenüber dem Reichtum seien denn auch unverrückbar, so Pfarrer Ruch. Der Mensch solle nach christlicher Auffassung sein Herz nicht an irdische Dinge hängen. Diese Interpretation liege gerade darum nahe, weil die Bibel dem Eigentumsschutz einen hohen Stellewert einräume. Solche Vorbehalte haben jedoch nichts mit Sozialismus oder mit der Forderung nach Umverteilung und materieller Gleichmacherei zu tun, führte der Referent weiter aus. Im heutigen Sozialstaat werde auf Kosten künftiger Generationen konsumiert und verbraucht, obwohl wir eigentlich zuerst einmal entbehren und sparen müssten. Die Aufforderung, dass „Geben seliger als Nehmen ist“ (Apostelgeschichte 20,35), setze entsprechend erst einmal voraus, dass man etwas hat.

Peter Ruch kam am Ende zum Fazit, dass der Sozialstaat in seinen mannigfaltigen Auswirkungen negativ sei. Die Bibel verlange ihn nicht. Auch Jesus, der die Nächstenliebe im Gleichnis des barmherzigen Samariters gepredigt habe, fordere nicht die Umstürzung der Verhältnisse und die Herstellung absoluter Gleichheit, sondern sein Erbarmen und seine Nothilfe sei eine Hilfe, die echt und „spürbar bis in die Eingeweide“ ist – und damit freiwillig unabhängig staatlichen Zwangs sein muss.

Bericht: Fabio Andreotti

Sozialstaat und Christentum: Thesen


Quelle: https://www.liberal.uzh.ch/de/Reports/ruch.html

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