(Schweizer Monat – Dossier: «Wertewandel ist Lebenswandel» – Ausgabe 1025 – April 2015)
Wie aus einer menschlichen Regung eine bürokratische Formel wurde.
Was gilt im mehrheitsfähigen Politjargon gemeinhin als «solidarisch»? «Solidarisch» ist, dass durch die Steuerprogression Leute mit hohem Einkommen heute bis zu zehnmal mehr für die gleiche Leistung bezahlen, beispielsweise für die Schulung ihrer Kinder. «Solidarisch» ist es, dass zwischen Schweizer Kantonen bzw. zwischen Bundesländern oder Gliedstaaten ein Finanzausgleich für milliardenschwere Kapitalflüsse sorgt. Immer wieder neu «solidarisch» zeigt sich nicht zuletzt die Europäische Union: Entgegen ihren eigenen Verträgen kommen tüchtigere Volkswirtschaften schon länger für die Defizite der weniger tüchtigen auf. Aber: Ist das echte Solidarität?
Solidarität
Der Begriff «Solidarität» ist abgeleitet von neulateinisch «solidaritas» und meint den Zusammenhalt einer Gruppe oder Gesellschaft. Solidus bedeutet «dicht» und «fest» als Eigenschaft eines Körpers. Auf der Suche nach der primitivsten und einfachsten Religion stiess schon der Forscher Émile Durkheim auf die Definition der Religion als «solidarisches System von Überzeugungen und Praktiken, die sich auf heilige Dinge beziehen und alle Mitglieder einer Gemeinschaft vereinen».
In der christlichen Ethik wurde die Solidarität als eine Form der Nächstenliebe definiert. Wirft man einen Blick in jüngere einschlägige Publikationen beider Konfessionen, so scheint die Solidarität gar zu einem Schlüsselbegriff geworden zu sein. Die Enzyklika «Evangelii Gaudium»1 von Papst Franziskus aus dem Jahr 2013 bietet drei Dutzend Belegstellen und zählt die Solidarität – neben Menschenwürde, Gemeinwohl und Subsidiarität – zu den vier Grundpfeilern der kirchlichen Soziallehre (Absatz 221). Die Solidarität ist innerhalb weniger Jahrzehnte ein Gemeingut -geworden, das gilt sowohl für die Kirchen als auch für die Politik: Sie hat sich von der noblen Regung des einzelnen zu einem Begriff von staats- und kirchenpolitischem Anspruch entwickelt.
Klar ist: Jeder Mensch ist gattungsbedingt auf Solidarität angewiesen, angefangen beim Säugling, der ohne seine Eltern nur wenige Tage überleben könnte, bis zum betagten und dementen oder behinderten Menschen. Auch die Solidarität im archaisch-religiösen Verband bezog sich auf eine überschaubare Gruppe. Noch engere Kreise zieht die genetische Solidarität in der Sippe. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Wahre Solidarität ist anstrengend und ihr Reservoir also begrenzt. Durch die zunehmende Mobilität und Anonymisierung der Gesellschaften (Stichworte: Verstädterung, Globalisierung) zeigte sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Solidaritätsdilemma: Je mehr Menschen einem Solidarverband angehören, desto geringer sind die gegenseitigen Solidaritätsgefühle. Der soziale Ausgleich gelingt seitdem nicht mehr spontan, so dass die Solidarität vermehrt durch verbriefte Gerechtigkeitsforderungen ersetzt wird. Dieser Vorgang ist problematisch: Wird die Solidarität auf eine grössere Zahl von Menschen bezogen, so kippt sie vom Zwischenmenschlichen ins Formale. Und wird auf diesem Wege dann gefolgert, alle Menschen sollten mit allen solidarisch sein – als globale Familie, wie es so schön heisst –, so müssen wir feststellen: Das ist ein grotesker Widerspruch in sich. Denn: Nur Gott hätte die Kapazitäten dazu.
Diese Feststellung ändert nichts daran, dass jeder Mensch ein potentieller Solidarpartner ist: Jederzeit kann jemand in meinem Solidarverband Aufnahme finden oder ich in seinem. Auch ein Solidarverband zu zweit kann sinnvoll sein, denn Nöte lassen sich in der Regel zu zweit besser überwinden als allein. Die Solidargemeinschaft zu zweit ist nicht zuletzt sogar der Prototyp aller Gemeinschaft: Mann und Frau finden gemäss Schöpfungsordnung zusammen und bilden ein Biotop für Kinder. Damit sind es schon drei. Und es können durchaus auch noch ein paar mehr sein.
Diese so archaischen wie übersichtlichen Formen der Solidargemeinschaft waren allerdings schon aus dem Blickfeld entschwunden, als die Solidarität zu Beginn des 20. Jahrhunderts von der französischen Arbeiterbewegung aus ihren Siegeszug antrat: Mit dem Terminus wurden zahllose Mitgenossen für den Klassenkampf mobilisiert. Im fortgeschrittenen Stadium der sozialdemokratischen Gesellschaft diente die Solidarität als Schlagwort zur Bezeichnung der Gleichwertigkeit aller Menschen. Das Wort stellte also nichts weniger als einen zeitgemässen Ersatz für den antiquiert anmutenden Ausdruck «Barmherzigkeit» dar.
Barmherzigkeit
Barmherzigkeit enthält ein Gefälle, während die Solidarität eine paritätische Verbindung beschreibt. Die Quelle der Barmherzigkeit ist nach biblischem Zeugnis und christlichem Bekenntnis die Zuwendung Gottes zum Menschen. Schon im Alten Testament sagt Gott oft Nein zu seinen ursprünglichen Absichten, um Ja sagen zu können zum Menschen, oder: um sich des Menschen zu erbarmen2. Im Evangelium empfindet auch Christus Barmherzigkeit mit leidenden Menschen und wendet sich ihnen zu. Auch zwischen Menschen ist die Barmherzigkeit der entscheidende Antrieb: Im bekannten Gleichnis erbarmt sich der Samaritaner des Mannes, der verletzt und ausgeraubt am Wegrand liegt.
Die Werke der Barmherzigkeit gehören seit jeher zu den Merkmalen des Christentums und haben viel zu seiner Attraktivität beigetragen. Weil Barmherzigkeit mit dem Mitleid3 nahe verwandt ist, wird im Sprachgebrauch nicht unterschieden. Das griechische Wort weist in der Urbedeutung auf die menschlichen Eingeweide, wo sich Missbehagen und eben auch Mitleid manifestieren.
Beide Begriffe, Mitleid und Barmherzigkeit, sind derweil in Misskredit geraten. Sie wirken altbacken und fassen bloss die Regungen der Wohltäter in den Blick. Der moderne Sozialstaat beruht jedoch auf dem Grundsatz des Anspruchs: Wer bedürftig ist, hat das Recht auf Sozialleistungen und darf nicht der launischen Barmherzigkeit anheimfallen. Das Mitleid steht überdies im Verdacht, Gefühle an die Stelle von Taten zu setzen.
Diese Gewichtung hat auch vor der Theologie nicht Halt gemacht. Politisch links orientierte Theologen wie Dorothee Sölle, Jürgen Moltmann und Johann Baptist Metz haben der Solidarität in den siebziger und achtziger Jahren zu einem wahren Siegeszug verholfen. Durch betonte Solidarität mit Frauen, Armen und Unterdrückten sollte die Kirche das Leiden Christi in der Welt bezeugen. Es wurde unterstellt, Theologie und Kirche hätten allzu lange einen leidensunfähigen Gott gepredigt.
Dieser Vorwurf lässt sich nur schon mit Schriften der alten Kirche sowie mit Luther und Barth widerlegen. Der Eindruck drängt sich deshalb förmlich auf: Die Solidarität als Alternative zu Nächstenliebe und Barmherzigkeit dient heute als Fassade für eine Kirche, die ihrer Inhalte und Botschaften nicht mehr recht froh werden kann. Das führt uns zurück zum eingangs erwähnten Papst Franziskus, der den Begriff Barmherzigkeit nicht vernachlässigt, aber in seinem oben bereits erwähnten apostolischen Schreiben «Evangelii Gaudium» besonders ausgiebig von der Solidarität spricht:
Die Solidarität ist eine spontane Reaktion dessen, der die soziale Funktion des Eigentums und die universale Bestimmung der Güter als Wirklichkeiten erkennt, die älter sind als der Privatbesitz. Der private Besitz von Gütern rechtfertigt sich dadurch, dass man sie so hütet und mehrt, dass sie dem Gemeinwohl besser dienen; deshalb muss die Solidarität als die Entscheidung gelebt werden, dem Armen das zurückzugeben, was ihm zusteht. (189)
Es entsteht eine neue, unsichtbare, manchmal virtuelle Tyrannei, die einseitig und unerbittlich ihre Gesetze und ihre -Regeln aufzwingt. Ausserdem entfernen die Schulden und ihre Zinsen die Länder von den praktikablen Möglichkeiten ihrer Wirtschaft und die Bürger von ihrer realen Kaufkraft. Zu all dem kommt eine verzweigte Korruption und eine egoistische Steuerhinterziehung hinzu, die weltweite Dimensionen angenommen haben. Die Gier nach Macht und Besitz kennt keine Grenzen. In diesem System, das dazu neigt, alles aufzusaugen, um den -Nutzen zu steigern, ist alles Schwache wie die Umwelt wehrlos gegenüber den Interessen des vergöttlichten Marktes, die zur absoluten Regel werden. (56)
Lesen sich diese Einlassungen nicht wie Auszüge aus einem sozialdemokratischen Parteiprogramm? Ich meine: doch. Ja mehr noch: sie gehören zu den gut gemeinten, jedoch wenig durchdachten Konzepten für «kirchliche Wirtschaftspolitik» und lassen sich im sogenannten Solidarismus zusammenfassen, der vor allem in Frankreich heimisch war und die offizielle Sozialphilosophie der Dritten Republik bildete.
Solidarismus
Der Solidarismus anerkennt durchaus den Sinn des Eigentums als Merkmal einer freiheitlichen und erfolgreichen Wirtschaftsordnung. Indessen fordert er eine übergeordnete Instanz, die über den richtigen Gebrauch des Eigentums wacht und ihn nötigenfalls durchsetzt. Es ist wohl kein Zufall, dass das Konzept im säkularen Frankreich entstanden ist, das manche Charakterzüge der einstigen «Erstgeborenen Tochter der Kirche» bewahrt hat.
Zu den Vordenkern des Solidarismus gehörte auch der Jesuit Heinrich Pesch. In der Enzyklika «Quadragesimo Anno» von Papst Pius XI. aus dem Jahr 1931, die stark von Pesch beeinflusst war, ging es um die kirchliche Lehre von Wirtschaft und Gesellschaft: Das Eigentum wird zwar auch hier in seiner individuellen und sozialen Funktion anerkannt, doch darf und soll der Staat dessen Gebrauch ordnen und gegebenenfalls um des Gemeinwohls willen einschränken. In diesem Sinne will auch Papst Franziskus den Wettbewerb durch den Staat regeln.
Kein dritter Weg
«Den Wettbewerb regeln» heisst jedoch, ihn abzuschaffen. Zwischen Freiheit und Etatismus gibt es keinen dritten Weg. Dass die Freiheit nicht grenzenlos ist, ist allerdings ebenso wahr. Sie bedarf der Gegengewichte. Die elementarsten von ihnen soll der Staat oder eine andere Form von Obrigkeit sichern: die Rechtsordnung, die Vertragsfreiheit, die Deklarationspflicht, den Schutz des Lebens, den Schutz des Eigentums, die Ahndung von Übergriffen. Diese Werte gewährleisten die Solidarität im Sinne des Zusammenhalts einer geographisch definierten Gemeinschaft. Hinzu kommen als weitere Korrektive natürliche Gegebenheiten: die Knappheit der Mittel, die Begrenztheit des Geldes, die Spezialisierung und der Tausch, die Empathie und Barmherzigkeit zwischen den Menschen. So ergibt sich eine Art gleichseitiges Dreieck mit den Eckpunkten Rechtsordnung, Freiheit und Kultur. Zur Kultur gehört hier auch die Religion. Sie war – in welcher Ausprägung auch immer – über viele Jahrhunderte für die Barmherzigkeit zuständig. Dass dabei auch Fehlleistungen zu Buche stehen, ändert nichts an dieser Tatsache.
Auch ohne tiefere Kenntnisse der Trigonometrie ist klar: Öffnet sich ein Winkel des Dreiecks, so werden die anderen kleiner. Wird also der Staat unter dem Vorwand der Gerechtigkeit laufend erweitert, engt das die Bereiche Freiheit und Kultur ein. Man könnte auch sagen: sie werden vom Staat annektiert. Die Barmherzigkeit wird zur angeordneten (!) Solidarität und schliesslich zur bürokratischen Umverteilung. Die Rechtsordnung erleidet in der Folge absehbare Schäden, weil die Mehrheit der Bürger auf Kosten anderer leben kann, will und sogar soll. Dass diese Dynamik keine Zukunft hat, zeigen die Schuldenstände der meisten westlichen Nationen.
Halten wir fest: Es gibt Fälle – von dramatischen persönlichen Schicksalsschlägen über Naturkatastrophen bis zu folgenschweren Rezessionen –, in denen tatsächlich eine Umverteilung nötig ist. Ihr grundsätzliches Motiv kann jedoch – aus theologischer wie aus sozialpolitischer Sicht – nicht eine bürokratische Formel, sondern muss die Barmherzigkeit in Freiheit sein. Die Hilfe von Mensch zu Mensch, die sich jenseits staatlicher Verordnungen zunächst zwischenmenschlich, aber auch im grösseren Stil (Stiftungen etc.) selbst organisiert.
Sie mag im Glauben begründet sein, etwa im Sinne von Jesus Christus: «Was ihr einem dieser meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan» (Matthäus 25, 40). Die Barmherzigkeit kann aber auch ganz ohne Gottesbezug entstehen. Soziale Gerechtigkeit und Solidarität sind im Gegensatz dazu bloss Jokervokabeln, die für alles verwendet werden, aber eigentlich nichts bedeuten.
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1 Vgl. http://w2.vatican.va/content/francesco/de/apost_exhortations/documents/papa-francesco_esortazione-ap_20131124_evangelii-gaudium.html
2 So etwa in der Geschichte von der Sintflut: Der ursprüngliche Vernichtungsplan Gottes wird torpediert durch seine eigene Entscheidung, Noah doch die rettende Arche bauen zu lassen.
3 Vgl. Andrea Anker: Am Leiden Gottes teilnehmen? In: Mitleid. Hrsg. von Ingolf U. Dalferth, Andreas Hunziker, Andrea Anker. Tübingen: Mohr Siebeck, 2007.
Peter Ruch
Peter Ruch ist evangelisch-reformierter Pfarrer in Küssnacht am Rigi und Stiftungsrat des Liberalen Instituts in Zürich.