Diese Kirche ohne Kanten

(NZZ – Feuilleton)

Spiritualität und Moralismus statt christliche Ethik: mein Abschied vom Pfarramt.

In Gustave Flauberts Roman «Madame Bovary» gibt der Apotheker Homais nach dem Disput mit seiner gläubigen Wirtin folgendes Bekenntnis ab: «Ich glaube an eine höhere Macht, an einen Schöpfer. . . . Aber ich habe kein Bedürfnis, in die Kirche zu gehen, silbernes Gerät zu küssen und eine Bande von Possenreissern zu mästen. Gott kann man viel schöner verehren im Walde, im freien Felde oder . . . angesichts der Gestirne am Himmel. . . . Ich bin für die unsterblichen Ideen von anno 1789! Und da glaube ich nicht an den sogenannten lieben Gott, der . . . seine Freunde in einem Walfischbauch einquartiert, jammernd am Kreuz stirbt und am dritten Tag wieder aufersteht. Das ist schon an und für sich Blödsinn und wider alle Naturgesetze!» – Diese Tirade lässt die Widerstände erahnen, denen die Kirche in der Moderne ausgesetzt ist. Der Roman erschien Mitte des 19. Jahrhunderts. An die Stelle des christlichen Glaubens ist eine diffuse Spiritualität getreten. Hier steckt der unauffällige Keim für die Umkehrung der Reformation in ihr Gegenteil: Statt Gott und seine Offenbarung in Jesus Christus rückt der Mensch in den Mittelpunkt.

Als ich meine Tätigkeit als Pfarrer vor 35 Jahren begann, hätte eine Tirade wie diejenige von Homais als lächerlicher Overkill gewirkt. Die Kirche war längst zur Nebensache herabgestuft worden und hatte mit der Macht auch Angriffsflächen eingebüsst. Was uns jungen Pfarrern überdies zugutekam, waren die Ausläufer eines Zwischenhochs, das die dialektische Theologie in der ersten Jahrhunderthälfte ausgelöst hatte. Deren Wortführer Barth, Bonhoeffer und Bultmann hatten wenigstens in einigen lesenden Teilen der Bevölkerung das Interesse an theologischen Fragestellungen geweckt.

Dem Pfarrer traute man noch in den 1980er Jahren Spiritualität, hilfreiche Deutungen sowie Krisenmanagement zu. Nicht selten rief man ihn gleichzeitig mit der Polizei oder dem Notarzt herbei. Waren Angehörige über einen Unfalltod oder einen Suizid ins Bild zu setzen, nahm die Polizei den Pfarrer mit oder schickte ihn allein hin. Einmal bat mich die Gemeindekrankenschwester, ihr beim Schliessen des Mundes einer Leiche behilflich zu sein. Ich war ohnehin ihr Vorgesetzter, präsidierte die Spitex, war Aktuar der Schulpflege und gehörte der Fürsorgekommission an. Ein Kirchgemeindesekretariat war mir bis 2006 unbekannt. Viele Kontakte begannen administrativ und wurden zur Seelsorge im weitesten Sinne.

Keine saubere Trennung

Abdankungsfeiern waren als öffentliche Ereignisse standardisiert und mussten nicht stets neu erfunden werden. Dazu gehörten ein Blick in den Sarg, Kirchenmusik, der Lebenslauf sowie die Verkündigung der Auferstehung in vielen Facetten. Diese Bräuche sind längst spürbar erodiert, was die Menschen dazu verleitet, Verstorbene schweigend zu bestatten. Fast jeder sagt heute über sein Begräbnis, man möge «keine grosse Sache» daraus machen. Abgesehen davon, dass eine Abdankungsfeier in der Tat keine grosse Sache ist, richtet sie sich an die Lebenden und sollte nicht vom Verstorbenen programmiert sein.

In der Zürcher Agglomerationsgemeinde Schwerzenbach, wohin ich vor 25 Jahren wechselte, war das Grabgebet beim Friedhofgebäude zu sprechen. Ein Friedhofbeamter hatte die Bräuche «vereinfacht» und zwischen Leben und Tod einen Airbag eingefügt. Es setzte einiges ab, bis man die Verstorbenen wieder bis zum Grab begleiten durfte. In vielen Gemeinden sind bis heute Bestattungen am Samstag unmöglich, obwohl die Nachfrage gross ist. Es sind nicht allein die Austritte, die der Kirche zusetzen. Es sind auch der Individualismus sowie kirchliche und kommunale Amtsschimmel.

Die Verbindung zwischen Kirche und Staat im Kanton Zürich war schon damals unzeitgemäss. Ich erhielt meinen Lohn zu 63 Prozent sowie die Entschädigung für den Religionsunterricht vom Kanton. Laizismus sieht anders aus. Doch wer Reformen aufschiebt, riskiert den Ketchup-Effekt. Die Kirche versäumte es, ihre Verantwortung für den Religionsunterricht wahrzunehmen, und der Staat machte daraus neutrale Religionskunde, indem er das Bekenntnis aus dem Schulbetrieb entfernte.

Dabei war die Lage der reformierten Kirche schon damals alles andere als komfortabel. Nicht nur die Gottesdienstbesucher, auch die finanziellen Ressourcen wurden und werden weniger. Vor einigen Jahren beschloss die Kirchensynode darum, die Zahl der Kirchgemeinden von 174 auf 39 zu reduzieren. Erstaunlicherweise nennt sich das «KirchGemeindePlus». Nun ist nicht mehr bloss Sitzberg zu klein, sondern auch Gemeinden mit 6000 Gemeindegliedern.

Zürich und Winterthur sollen zu je einer Kirchgemeinde eingedickt werden. Dadurch werden Substrukturen erforderlich, die den Spareffekt schmälern dürften. Die weithin gültige Erfahrung zeigt derweil: je kleiner die Kirchgemeinde, desto grösser die prozentuale Beteiligung. Selbstverständlich braucht es eine kritische Masse, doch liegt diese weit unter dem, was soziologisch und organisatorisch vernünftig erscheint.

Auch der Kirchenbegriff des Neuen Testaments deutet in diese Richtung. Die «Ekklesia» ist primär eine Versammlung. Im Falle der griechischen Polis, wo das Wort herkommt, ist es die politische Gemeindeversammlung, deren Beschlüsse auch für Abwesende gelten. Im Falle der christlichen Gemeinde ist es die gottesdienstliche Versammlung, wo die Gnade Gottes ausgerufen wird – für alle Welt! «Kirche» ist kein Überbau, sondern Ortsgemeinde, und jede Ortsgemeinde vertritt die ganze Christenheit.

Dass mehrere Dörfer dazugehören können, ist klar. Auch Zusammenarbeit ist sinnvoll. Sie wurde schon immer praktiziert. Bei fusionierten Grossgemeinden lassen sich jedoch die Aufblähung der Strukturen, Regulierungsschübe, die Zentralisierung und ein geschwächtes Verantwortungsbewusstsein feststellen. Eine Zentrale ist weniger an den Inhalten als an den Abläufen interessiert. Sie sucht nach Rechtfertigungen für ihre Struktur. «Tue Gutes und rede darüber» ist ein beliebtes Motto geworden. Doch bei näherer Betrachtung sind die sozialen Leistungen der Kirche nicht so umfangreich, wie sie gerne dargestellt werden. Die Freiwilligenarbeit ist erwähnenswert, bleibt indes hinter dem zurück, was in Vereinen und Sportverbänden – ebenfalls mit Gewinn für den sozialen Zusammenhalt – geleistet wird. Vor allem steht die Rechtfertigung durch gute Werke dem Evangelium entgegen. «Wenn du nun Almosen gibst, so posaune es nicht aus, wie es die Heuchler tun . . . Lass deine Linke nicht wissen, was die Rechte tut, damit dein Almosen im Verborgenen bleibt. Und dein Vater, der ins Verborgene sieht, wird es dir vergelten » (Matthäus 6, 2–4). Das Gleiche sagt Jesus über das Gebet, und ebenso gilt es auch für jede Diakonie.

Moderner Moralismus

Die Verkündigung des Evangeliums soll öffentlich sein, und das Evangelium ist dies: Gott hat die Welt geschaffen und uns ins Leben gerufen. Er hat sich in Jesus Christus offenbart und den Menschen die Auferstehung zum ewigen Leben verheissen. Diese Verheissung gilt auch dann, wenn wir in keiner Weise dafür qualifiziert sind. Das erscheint vielen als Schnee von gestern. Eine Täuschung! Wer aufmerksam um sich und in sich blickt, sieht unsere säkularisierte Zivilisation von Moralpredigten und Rechtfertigungen triefen. Sammelaktionen und Umweltprojekte füllen Gazetten und persönliche Gespräche. Schulen schieben grundlegende Lernstoffe nach hinten, um mit den Kindern Naturschutz und Nichtdiskriminierung einzuüben. Der Staat belehrt uns über gesundes und ungesundes Verhalten sowie über gute und böse Verkehrsmittel. Die Energiewende ist zur parareligiösen Erleuchtung von Politik und Verwaltung geworden.

Der heutige Moralismus ist nicht besser als der mittelalterliche, und die Kirche hätte die Aufgabe, vom Evangelium her Gegensteuer zu geben. Dazu fehlt ihr jedoch die innere Freiheit. Der Schrumpfungsprozess schüchtert sie ein. Wenn schon kleiner, dann auch homogener. In der Kirche – auch in der römisch-katholischen – herrscht viel Harmonie und wenig Binnenpluralität. Der Sozialstaat hat uns dazu erzogen, Nächstenliebe zu delegieren und dem anonymen Dritten die Aufgabe des Retters in allen möglichen Nöten zuzutrauen. Dagegen müsste sich die Kirche, ihrer Mission entsprechend, eigentlich erheben.

Sowohl das Alte als auch das Neue Testament sind erfüllt von der Überzeugung, dass der Mensch mit Einbussen, Rückschlägen und Rezessionen leben kann, sofern er sich im Reich Gottes beheimatet weiss. Wo christliche Ethik überlebt hat, kann man zum Beispiel die Flutung des Marktes mit Geld durch die Notenbanken nur mit Protest hinnehmen. Sie ist ein Versuch, die alte biblische Weisheit, wonach Weinen und Lachen ihre Zeit haben, ausser Kraft zu setzen. Das Resultat sind Investitionen in Projekte, für die das Geld fehlt, sowie Verschwendung, Umweltzerstörung und Raub an den Nachkommen. Das nennt sich Solidarität und zersetzt in Wirklichkeit Ethik und Nächstenliebe.

Die Kirche wäre dazu berufen, zum moralischen Megatrend eine Alternative zu bieten und den Menschen Hoffnung zu machen. Im Taumel zwischen Weltangst und Selbsterlösung stellt das Evangelium genau die richtige Therapie dar. Das Kernproblem der Kirche ist nicht wie beim Apotheker Homais die Anfeindung von aussen, sondern die Verzagtheit und die Versuchung, den Menschen mehr zu gefallen als Gott.

Evangelischer Glaube ist keine weitere Zivilreligion, die das moderne Ego auf dem Weg zur spirituellen Selbsterlösung begleitet. Wäre er dies, so wären auch die Kirchgemeinden überflüssig. Der Schrumpfungsprozess bietet die historische Chance, die Aktualität des Inhalts neu zu entdecken – wie Gott schon in der Bibel sein Wesen mitunter offenbarte, indem er imposante Einrichtungen wie den Tempel aufgab.

Peter Ruch hat Theologie in Basel und Montpellier studiert und war bis zu seiner Pensionierung als Pfarrer in verschiedenen Gemeinden tätig, zuletzt in Küssnacht am Rigi. Er ist Stiftungsrat des Liberalen Instituts in Zürich.

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