Was siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, den Balken im eigenen Auge aber nimmst du nicht wahr? (Lukas 6, 41) – Seit vier Jahren ist Donald Trump der harten Kritik durch die Weltpresse ausgesetzt. Als Bibelkolumnist habe ich ihn nicht zu beurteilen, möchte Ihnen jedoch einen Gedankengang vorschlagen: Nehmen wir an, Trump ist so schlimm wie weitgehend dargestellt. Was ergibt sich da-raus? Als Erstes ergibt sich die Frage, wie es in der bestbewährten Demokratie so weit kommen konnte. Ein Trump fällt nicht wie ein Meteorit vom Himmel ins Weisse Haus, sondern das Ganze hat eine Vorgeschichte. Sie begann damit, dass der Kongress in den letzten Jahrzehnten stetig Macht an die Exekutive abgab. Viele Abgeordnete und Senatoren gestalten nicht aktiv, sondern geniessen ihren Status als Prominente. Die schleichende Selbstentmachtung des Kongresses hat massgeblich den Boden für einen Präsidenten wie Trump – und für noch autokratischere, die folgen könnten – bereitet. Die Parteien ihrerseits haben die Nomination der Präsidentschaftsanwärter an die Vorwahlen abgetreten. Solche gibt’s seit 1912, und über Jahrzehnte waren sie nicht bindend. Durch die Vorwahlen kann ein Kandidat eine Partei kapern. Auch Bernie Sanders wäre das mit den Demokraten beinahe gelungen. Die Medien ihrerseits sind zu wenig wachsam. Fox News plappert dem Präsidenten alles nach.
Und bei uns? In der Corona-Krise ist das Parlament abgetaucht. Beschlüsse des Souveräns wurden schon vorher übergangen. Radio und Fernsehen SRF repetieren wie Papageien die Botschaften des Bundesrates. In Deutschland wurden seit zehn Jahren einschneidende Entscheidungen ohne Parlament gefällt. In Frankreich war das Parlament noch nie eine relevante Grösse. In Italien ist die Legislative eine Abzockerkaste. In Österreich hat Sebastian Kurz die ÖVP gekapert. Er macht seine Sache gut, aber die Konstellation birgt Gefahren. Die Kritik an Trump mag berechtigt sein. Klüger wäre es, das eigene Haus zu betrachten und für Freiheit und Frieden fit zu machen.
Weltwoche 24/2020