(NZZ)
Bei der Bekämpfung des Coronavirus hat sich von Anfang an die Frage nach der richtigen Ethik gestellt. Etwa jene, ob man wegen wirtschaftlicher Interessen Todesfälle hinnehmen will. Doch die Frage könnte falsch gestellt sein
Wenn Gefahr ist, sind die meisten auf die Gegenwart fixiert. Dabei ist doch eigentlich klar: Von Ethik und Moral lässt sich nur da sprechen, wo die Menschen das Ganze einer Pandemie gewissenhaft bedenken.
Bei der Bekämpfung des Coronavirus hat sich von Anfang an die Frage nach der richtigen Ethik gestellt. Politiker stellten die rhetorische Frage, ob man wegen wirtschaftlicher Interessen Todesfälle hinnehmen wolle. Diese Frage bejaht niemand. Aber sie könnte falsch gestellt sein.
Die Ethik verfolgt wesensgemäss nicht kurzfristige, sondern langfristige Werte. Das griechische Wort «ethos» bedeutet Sitte und Gewohnheit, genau wie die lateinische Übersetzung «mos», «moris» – Moral. Das deutsche Wort «Sitte» hängt seinerseits mit Sehne und Saite zusammen und markiert ein Bindungsverhältnis.
Die Wortgruppe weist nüchtern darauf hin, dass jedes Individuum mit dem Erfahrungsschatz seiner Eltern, Vorfahren und Mitmenschen verbunden ist und die Kunst der rechten Lebensführung nicht völlig neu erfinden muss. Die Sitten schützen den Einzelnen vor verhängnisvollen Nebenwirkungen, die er nicht abschätzen kann. Zugleich schafft die Ethik eine Verbindung zur Zukunft, ist also die Gegenposition zu «Nach mir die Sintflut».
Jung und Alt
Menschenleben für wirtschaftliche Interessen opfern? Es könnte umgekehrt sein: Vielleicht bürdet man der Zukunft Todesfälle auf, um der Gegenwart solche zu ersparen. Etwas Ähnliches tun die meisten Länder bei den Sozialsystemen: Lasten von der Gegenwart in die Zukunft umschichten. Sowohl bei den Sozialsystemen als auch nach der Pandemiebekämpfung könnte es ein böses Erwachen geben.
Zunächst ist festzuhalten, dass niemals Menschenleben, sondern stets Lebensjahre gerettet werden. Anders als die Spanische Grippe vor hundert Jahren bedroht Covid-19 vor allem alte Menschen. Das Durchschnittsalter der mit Corona Gestorbenen liegt nahe bei der statistischen Lebenserwartung. Älteren und alten Menschen dient somit die ganze oder teilweise Stilllegung mehrerer Wirtschaftszweige sowie des Bildungssystems.
Die Lebenserwartung stieg in den letzten 150 Jahren um 40 Jahre. Allein von 1960 bis heute wuchs sie von 71,3 auf 83,6 Jahre an. Sie steht mit der Wirtschaftskraft in direktem Zusammenhang. Deshalb wird die Rezession nach dem Lockdown voraussichtlich auch auf die Lebenserwartung durchschlagen. Die Verlierer sind die jüngeren Generationen.
Diese müssen ausserdem Einbussen bei der Pensionskasse hinnehmen und tragen dadurch ein höheres Armutsrisiko im Alter. Darüber hinaus sind durch Konkurse und Stellenverluste mehr Suizide zu befürchten. Arztkonsultationen und Hospitalisierungen waren bei der ersten Welle rückläufig. Das kann Diagnosen und Behandlungen verzögern und sich bei Herzinfarkten und Krebserkrankungen verhängnisvoll auswirken. Kinder- und Jugendärzte raten davon ab, wegen der Pandemie Vorsorgetermine und Impfungen zu vernachlässigen.
Arm und Reich
Ungleich stärker sind ärmere Länder betroffen, weil ihre knappen Ressourcen oft mit internationalen Produktionsketten zusammenhängen und durch den Lockdown weiter geschmälert werden. Hinzu kommen überall die psychischen Auswirkungen. Das deutsche Meinungsforschungsinstitut Ifop stellte fest, dass sich die mentale Gesundheit der Menschen während der Ausgangsbeschränkungen verschlechtert hat. In Grossbritannien brachte eine Studie eine «besorgniserregende Zunahme von Depressionen» an den Tag. Die Sorge um den Job und das Einkommen ruft Stress hervor.
Personen mit schlecht bezahlter Arbeit oder ohne Stelle haben eine kürzere Lebenserwartung. Gemäss der britischen Bildungsbehörde verlernen Kinder im Lockdown einfachste Fähigkeiten, wie mit Messer und Gabel zu essen. Einige machten wieder in die Windel. Bei älteren Kindern sei auffällig, dass ihre Ausdauer beim Lesen und Schreiben nachgelassen habe. Auch die Leistungen beim Rechnen seien zurückgegangen. Eine Studie aus der Schweiz zeigt, dass sich die Kluft zwischen stärkeren und schwächeren Schülern vergrössert. Die stärksten Schüler lernen zu Hause schneller als in der Schule, und bei den schwächeren ist es umgekehrt. Unter den fehlenden direkten Begegnungen leiden alle.
Schulleiter berichteten über einen Rückgang der Fitness bei Mädchen und Buben. Die Vereinten Nationen warnen davor, dass die Pandemie und die Rezession die Armut ausweiteten, worunter besonders Kinder litten. Die täglich und stündlich gemeldeten Ansteckungs- und Todesfallzahlen trüben den Blick für die Proportionen.
Diesseits und Jenseits
Der Mensch ist sterblich und weiss es. Weil der Tod schwer erträglich ist, erschien die Perspektive eines jenseitigen Lebens ab den Anfängen der Kulturgeschichte als hilfreich und tröstlich. Im Christentum steht die Hoffnung auf die Auferstehung der Toten im Zentrum: Der wöchentliche Sonntag erinnert an den Auferstehungstag Jesu Christi.
Der Apostel Paulus bekennt Jesus Christus als den Erstling der Auferstandenen. Das Leben im Jenseits war für viele Generationen eine hoffnungsvolle Perspektive, umso mehr, als selbst Kinder und junge Leute jederzeit dem Sterberisiko ausgesetzt waren. Der Abschied von Verstorbenen war eine dauernde Herausforderung, und die Menschen waren darin geübt. Dass dies radikal anders geworden ist, ist ein Vorzug der Moderne.
Starben 1870 in der Schweiz noch jährlich 2,7 Prozent der Bevölkerung, waren es 2019 knapp 0,8 Prozent. Das Lied vom verdrängten Tod ist hier nicht anzustimmen, doch erhebt sich die Frage, ob es neben dem bekannten Machbarkeitswahn einen Verhinderungswahn gibt. Verhinderungsprojekte sind seit Jahrzehnten prominent traktandiert: gegen Krieg, Rassismus, Antisemitismus, Armut, Unrecht, Natur-, Tier-, Gewässerschädigung, CO2. Vieles wurde erreicht. Das nährt die Phantasie, jegliches Unheil sei abwendbar.
Und die Vollkasko-Ansprüche machen blind für die Nebenwirkungen, die jede Massnahme im Schlepptau führt. Im Jahr 2020 sind in der Schweiz rund 6400 Personen mit Corona gestorben. Dadurch steigt die Zahl der Todesfälle pro 1000 Einwohner von 7,9 auf 8,0. Wären beispielsweise 18 000 Personen mit Corona gestorben, was als apokalyptisch dargestellt worden wäre, wären es 10 auf 1000 gewesen. Das ist die Sterberate, welche das Bundesamt für das Jahr 1963 ausweist. Damals war die Schweiz kein Totenhaus. Der Corona-Hype wird nicht nur von realen Bedrohungen, sondern auch von unserer medialen Echtzeiterfahrung und der damit einhergehenden Empfindsamkeit befeuert. Empfindsamer müssten wir auch in Bezug auf die Nebenwirkungen werden, welche die Massnahmen nach sich ziehen.
Gesinnung und Verantwortung
Der Ökonom und Rentenspezialist Bernd Raffelhüschen aus Freiburg im Breisgau rechnet mit allermindestens zehnmal so vielen durch den Lockdown verlorenen Lebensjahren, als durch ihn gewonnen wurden. Die Verluste treffen vor allem die jüngeren Generationen. Die Corona-Massnahmen sind nicht nur ein Ausdruck der Humanität, sondern auch der nicht berauschenden Lebensklugheit unserer Zivilisation.
Sie zeigt sich auch darin, dass Regierungsmitglieder gegenüber dem Souverän eine Nähe simulieren, die etwas Kitschiges hat: «Wir lassen euch nicht allein. Wir kümmern uns um euch.» Die aufgeklärte Gesellschaft, die sich über Jenseitshoffnungen erhaben fühlt, verhält sich in der Krise wie ein Kind, das sich vor der Dämmerung fürchtet. Die Dämmerung des Lebens beginnt früh, und wer sie ausblendet, ist nicht weise. «Unsere Tage zu zählen, lehre uns, damit wir ein weises Herz gewinnen», sagt der Psalm 90, das Manifest der Vergänglichkeit. Die Corona-Bekämpfung ist mehr Gesinnungs- als Verantwortungsethik. Die unfassliche Geldschwemme und -entwertung als Danaergeschenk an die Zukunft wäre eine eigene Analyse wert.
Friedrich Schiller lässt in der «Braut von Messina» den Chor als Schlussgesang singen: «Dies eine fühl ich und erkenn es klar, das Leben ist der Güter höchstes nicht.» Zu romantisch?
Zeitgemäss und realitätsnah liest es sich bei Hannah Arendt: «Es war einmal eine glückliche Zeit, als die Menschen frei wählen konnten: Lieber tot als Sklave, lieber stehend sterben, als auf den Knien leben. Und es war einmal eine verruchte Zeit, als schwachsinnig gewordene Intellektuelle erklärten, das Leben sei der Güter höchstes. (. . .) Wir Lebenden haben zu lernen, (. . .) dass man nicht unsterblich wird, wenn man dem Leben nachjagt.»
Zumindest sollten die Nebenwirkungen der Lockdowns stärker in die Entscheidungen einfliessen, damit die Ethik nicht fahrlässig geschmälert wird.
Peter Ruch hat in Basel und Montpellier Theologie studiert und war bis zu seiner Pensionierung als Pfarrer in verschiedenen Gemeinden tätig, zuletzt in Küssnacht am Rigi. Er ist Stiftungsrat des Liberalen Instituts in Zürich.