Pfingsten 2018
»Obwohl ich nichts getan habe, was sich gegen unser Volk oder die Sitten unserer Väter richtet, bin ich von Jerusalem als Gefangener den Römern ausgeliefert worden. Diese haben mich verhört und wollten mich freilassen, da nichts an mir zu finden war, was den Tod verdient. Da aber die Juden Einspruch erhoben, war ich gezwungen, an den Kaiser zu appellieren – doch nicht in der Absicht, mein Volk in irgendeiner Weise zu verklagen.« Apostelgeschichte 28, 17-19
Die Eintrittskarten für die baldige Fussball-Weltmeisterschaft sind teuer und fast wie Banknoten gestaltet. Es muss klar sein, wer Zutritt hat und wer nicht. Auch andere Anlässe und Milieus wachen streng darüber, wer eintritt. Zusammenkünfte von wichtigen Gremien müssen unter Umständen gegen Publizität und Verzerrungen geschützt werden. Es gibt auch Orte, die aus religiösen Gründen gesperrt sind. Mekka, die heilige Stadt der Muslime, dürfen nur Muslime besuchen. Hingegen ist der Petersdom in Rom, allgemein zugänglich. Freilich ist auch dort einiges der Kurie vorbehalten. Die Protestanten kennen keine solchen heiligen Räume. Zwar schreiten auch sie mit Respekt in den Chor einer Kirche. Aber wirklich heilig sind diese Räume nicht. Allfällige Absperrungen dienen bloss praktischen Zwecken. Zu einer religiösen Zone zugelassen werden oder nicht – das ist eine Frage der Qualifikation. Bin ich qualifiziert durch meine Funktion, meine Kleidung, meinen Glauben? Manche Religionsgemeinschaften verstehen sich als Sachwalter von Gottheiten. Im Hinduismus sind viele Pilgerorte über ganz Indien verteilt. Es sind heilige Plätze, häufig in reizvoller Umgebung, wo die Götter sich manifestieren und mit Menschen berühren. Sofern das Ritual stimmt und korrekt zelebriert wird.
Ein vergleichbare Auffassung war unter den Juden verbreitet, als der Untersuchungshäftling Paulus nach Rom überführt wurde. Hätten die Juden plötzlich an Jesus Christus geglaubt, anstatt sich an die herkömmliche Tradition zu halten, so hätte die religiöse Führung an Autorität und Einkünften eingebüsst. Deshalb versuchten sie, unliebsame Veränderungen zu stoppen. Zu diesem Zweck spannten sie den römischen Staat ein. Der aber interessierte sich nicht für religiöse Streitigkeiten. Das Kerngeschäft des Staates ist: Das Recht schützen. Dietrich Bonhoeffer hat in seiner Ethik geschrieben: Der Staat ist nicht schöpferisch. Bonhoeffer hatte zur Hitlerzeit erlebt, wie es herauskommen kann, wenn der Staat sich als Ernährer und Übervater und letztlich als Ersatzgott aufplustert. Das Recht schützen hat etwas Formales und Trockenes. Es gibt Rechtsfälle, wo man sich als Laie fragt: Wie kann das Gericht oder die Behörde so formalistisch sein? Aber der Formalismus lässt sich nicht immer vermeiden, wenn der Staat seine Kernaufgabe erfüllen will. Der Buchstabe des Rechts ist nun einmal geschrieben, und nicht jeder Einzelfall kann im Gesetz vorgesehen sein. Auslegungen sind zuweilen unvermeidlicherweise spitzfindig.
Schwierig wird es jedoch, wenn Religionsgemeinschaften formalistisch sind. Wenn sich Verantwortungsträger mehr Juristen als Seelsorger sind. Manche Religionen sind per se gesetzeslastig. Sie leben mehr aus Vorschriften als aus aus dem Geist. Im Neuen Testament bilden die Juden das Beispiel einer formalistischen Religion. Jesus, der Jude, kritisiert vor allem das. Und er fällt schliesslich dem toten Buchstaben, zum Opfer. Das ist umso erstaunlicher, als innerhalb des Judentums längst eine lebhafte und lange Tradition lebte, die Dinge zu hinterfragen, zu kritisieren ihrem Geiste nach neu zu interpretieren. Anfänglich waren ja der politische, der priesterliche und der profetische Dienst in den gleichen Personen vereint. Sogenannte Richter wie Gideon, Samuel und Eli waren politisch und priesterlich tätig, und hatten überdies profetische Gaben. Später fielen diese Mandate auseinander. Die Könige entfernten sich zusehends vom Willen Gottes, ebenso die Priester. Aber Gott verschaffte sich Gehör, indem er Profeten berief. Profeten ohne Macht und Amt erhoben ihre Stimme und riefen Gottes Botschaft aus. Ohne Macht und Einfluss; ohne Einrichtung, ohne Autorität und ohne Schutz. Die Profeten sind die verblüffendste Erscheinung in der Bibel überhaupt. Wenn Priester und Könige, die nach damaligem Glauben von Gott eingesetzt waren, ihr Amt ausübten, müsste doch alles in Ordnung sein. Aber nein! Sie wurden von den Profeten kritisiert. Damit widersprach Gott gleichsam sich selbst. Wieso sorgte er nicht dafür, dass seine Priester und Könige das Richtige taten? Wieso liess er sie abdriften auf falsche Wege, etwa zur Zeit Jesajas, als der Opferbetrieb im Tempel zum hohlen Theater verkommen war?
Verunsicherungen lieben wir nicht. Wir wünschen uns sicheres Auftreten, klare Familienverhältnisse, verlässliche Arbeitsplätze, sichere Renten. Aber wir kennen auch Beispiele, wo Menschen allzu sicher sind. Unbeirrt und unbeirrbar bis zur Sturheit. Im Ostblock nannte man sie Betonköpfe. Weder die wirtschaftliche Misere noch die Stimmung im Volk konnten sie verunsichern. Es gibt auch religiöse Betonköpfe. Solche die meinen, die Verhältnisse zwischen Mensch und Gott seien ein- für allemal geregelt. Doch darf die Botschaft vom ewigen Gott nicht dazu verleiten, auch die Kirche als ewig zu betrachten. Pfingsten ist das Fest der Verunsicherung. Insofern ist Pfingsten unangenehm. Aber wo Leben ist, da herrscht keine absolute Sicherheit. Paulus verunsicherte seine jüdischen Volksgenossen. Deshalb nannten sie seine Predigt sektiererisch. Ein Schimpfwort. Aber Vorsicht! Auch das Christentum begann als Sekte. Als schräge Bewegung von Aussenseitern.
Paulus zitiert den eigenartigen Befehl, der einst an den Profeten Jesaja erging: »Verstocke das Herz dieses Volkes, mache taub seine Ohren und blind seine Augen, dass es mit seinen Augen nicht sehe und mit seinen Ohren nicht höre, dass nicht sein Herz einsichtig werde und man es wieder heile.« (Jesaja 6,10) Verstockte Menschen sind Betonköpfe. Verstockt Gott selber Menschen, so ist er selbst bei Irrtümern und Krisen noch anwesend. Er setzt ihnen Grenzen. Wie er auch den Bosheiten Grenzen setzt. Mir scheint, Gott will uns verunsichern, damit wir keine Betonköpfe werden. Jesus verunsicherte seine Umgebung, vor allem diejenigen, die ihrer Sache sicher waren. Diejenigen, die das Leben als eine Art Fussballspiel und Gott als Linienrichter betrachteten. Diese Sicht hat es nötig, verunsichert zu werden.
Aber in einem Punkt gibt’s keine Verunsicherung: Dass Jesus Christus das Wesen Gottes ans Licht gebracht hat. Um das zu erkennen und zu verstehen, braucht es den Geist, der von oben kommt. Jeden Menschen kann dieser Geist packen. Alle sind wir Gott gleich nah und gleich fern. Im Volk Gottes gibt’s keine Kastenordnung, keine Vorrechte, aber auch keine absoluten Barrieren. Das letzte Wort in der Apostelgeschichte heisst »ungehindert«. Paulus predigte das Reich Gottes und lehrte von Jesus Christus ungehindert. Gott anerkennt keine Hindernisse. Was für ein Glück!
Pfingsten 2018, Zürcher Bote