Der Messiaseffekt

“Wenn dann einer zu euch sagt: Da ist der Messias oder dort, so glaubt es nicht. Denn es wird mancher falsche Messias und mancher falsche Prophet aufstehen, und sie werden grosse Zeichen und Wunder tun, um wenn möglich sogar die Erwählten in die Irre zu führen.” (Mat 24,23f)
Beginnen wir auf der sicheren Seite: Die Bibelverse sagen, falsche Messiasse und falsche Propheten können vorkommen, und Menschen können auf sie hereinfallen. Im Urtext steht griechisch »Christus« für das hebräische »Messias«. Beides heisst »Gesalbter«. Schon bei den Hethitern vermittelte die Salbung mit kostbaren Ölen die Fähigkeit, zu herrschen. Auch im Alten Testament wird der König durch Salbung inthronisiert. Nach dem Zerfall des Reiches Israel wurde der Messias zum Inbegriff des idealen Herrschers, der dereinst erscheinen und alles wieder herstellen wird. Die Christenheit ihrerseits sieht in Jesus Christus die messianischen Erwartungen erfüllt.
Die Sehnsucht nach dem idealen Herrscher wohnt in vielen Herzen. Deshalb werden in der Misere Kandidaten zu Heilsbringern veredelt. Beispielsweise Emmanuel Macron. Das Land ist seit 1981, als Mitterrand ins Elysée einzog, kontinuierlich auf Abstiegskurs. Fast die Hälfte der Stimmenden wählte radikale Kandidaten. Macrons Anhänger und viele Medien können den Messiaseffekt ungeniert bewirtschaften.
Obwohl Macron als ehemaliger Wirtschaftsminister an der Misere mitschuldig ist, glitzert er als »Reformer«: Senkung der Staatsquote von 56 auf 53 Prozent, Festhalten an der 35-Stunden-Woche und am Renteneintrittsalter 62, ein Ausgabenprogramm über 50 Milliarden Euro, Stärkung der EU-Zentrale. Mit all dem wird sich der Niedergang Frankreichs fortsetzen. Im alten Schrott und Trott. Macron ist kein Erlöser. Seine Vorzüge erschöpfen sich darin, dass die Gegenkandidatin noch untauglicher ist. Wer vom wahren göttlichen Messias etwas weiss, gewinnt das Augenmass, um Pseudemessiasse zu erkennen. Ich erwarte von Macron wenig und freue mich, wenn er die Erwartungen übertrifft.
Weltwoche 18/2017

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