«Der Geist des HERRN aber war von Saul gewichen, und ein böser Geist vom HERRN versetzte ihn in Schrecken. Und die Diener Sauls sagten zu ihm: Sieh doch, ein böser Gottesgeist versetzt dich in Schrecken. Unser Herr muss es nur sagen: Deine Diener, die vor dir stehen, werden einen Mann suchen, der es versteht, die Leier zu spielen. Und wenn der böse Gottesgeist auf dir ist, wird er in die Saiten greifen, und das wird dir gut tun. Und Saul sagte zu seinen Dienern: Haltet Ausschau für mich nach einem Mann, der gut spielen kann, und bringt ihn zu mir. Daraufhin sagte einer der Burschen: Sieh, ich habe einen Sohn von Isai, dem Betlehemiter, gesehen, er versteht es, zu spielen, ein Kriegsheld, ein Krieger, redegewandt, ein Mann von gutem Aussehen, und der HERR ist mit ihm. Da sandte Saul Boten zu Isai, und er sagte: Schick David zu mir, deinen Sohn, der bei den Schafen ist. Und wenn Gottesgeist auf Saul war, nahm David die Leier und griff in die Saiten; dann wurde es Saul leichter, und es tat ihm gut, und der böse Geist wich von ihm.» (1. Samuel 16,14-19.23)
Die Erzählung zeigt, wie Musik an uns wirkt. Der König Saul war in Schrecken versetzt worden, nicht durch einen dummen Zufall, sondern durch einen bösen Geist von Gott selber. Gott wollte ihn als König absetzen. Entsprechend finster war seine Gemütslage. Etwa vergleichbar mit einem Menschen, der heutzutage als Star der Politik oder Wirtschaft oder der Kunst jahrelang bewundert wurde und dann plötzlich in die Tiefen der Verwerfung und Verachtung gestossen wird. Einen solchen Menschen zu trösten, ist schwierig. Sauls Hofdiener waren ratlos, bis ihnen einfiel, dass Musik ihm helfen könnte: Wir suchen jemand, der die Leier spielt. Das wird dir gut tun.
Die Musik spielt in der Bibel, im Judentum und im Christentum, durchwegs eine wichtige Rolle. Es gibt dem Alten Testament zahlreiche Kriegslieder, Spottlieder, Liebeslieder, Klagelieder und Arbeitslieder. Der Gesang hat die Geschichte Gottes mit den Menschen stets begleitet. David hat freilich nicht Posaune, Trompete oder Flöte gespielt, sondern die Harfe. Sie bestand aus einem Rahmen mit den gespannten Saiten und einem hölzernen Resonanzboden, ohne Griffbrett. Die damaligen Blasinstrumente tönten übrigens schrill und hatten eher den Charakter von Alarmsirenen. Vor allem kann ein Bläser nicht gleichzeitig singen.
Indessen war der Gesang das Leitmotiv der Musik. Nicht der Trallalla-Gesang, sondern das Singen von Texten. Zum ältesten Gesangsgut gehören die 150 Psalmen. Leider kennen wir die Melodien der alten Israeliten nicht mehr. Aber wir haben zum Glück unzählige wunderschöne Vertonungen von Psalmen und anderen Bibeltexten aus den letzten Jahrhunderten bis in die Gegenwart. Interessant ist die Frage, weshalb man überhaupt sang und nicht bloss rezitierte. Offensichtlich merkten die Menschen früh, dass Töne und Harmonien viel tiefer auf den Menschen einwirken. Gute Texte und schöne Musik bilden die ideale Verbindung. Wenn die Musik wirklich gut ist, dann darf die Handlung sogar mittelmässig sein. Ich denke an manche Opern, deren Handlung so simpel ist, dass man sie eigentlich nur wegen der Musik aufführt.
Die Musik verwandelt die Dinge, und sie verwandelt uns. Der Takt nimmt unsere Herzschläge auf und bringt uns in Schwingungen. Die Melodien und Harmonien lösen Stimmungen aus. Für jede Lebenslage gibt es eine passende Musik. Vielleicht finden wir sie nicht immer. Vielleicht kennen wir sie nicht. Aber es gibt sie. Oder sie entsteht dann in der entsprechenden Situation. Die Verwandlung kann vom unauffälligen Trost bis zur Entfesselung reichen. Menschen können durch Musik die Kontrolle über sich verlieren und in eine andere Welt entschweben. Das kann eine wundervolle Therapie sein. Therapie war ja auch bei Saul beabsichtigt. Und sie gelang. Die Musik Davids war stark genug, den verzweifelten König zu trösten. Und man hoffte wohl, sie sei kräftig genug, um Gott zu besänftigen, so dass er seinen bösen Geist zurückzog.
Die Musik schafft unsägliche Verbindungen. Zwischen den Menschen. Zwischen den Kulturen. Und zwischen Mensch und Gott. Zwar waren die ersten christlichen Gemeinden zurückhaltend mit Musik. Die Musik wurde in den heidnischen Kulten gepflegt, und deretwegen waren ja die Christen unter Druck. Dennoch haben sie in den Gottesdiensten gesungen. Es gibt sogar eine Christusdarstellung in den Katakomben, wie er eine Leier auf dem linken Knie hält und mit deinem Plektron in der rechten Hand in die Saiten greift. Aber richtig mit Musik angereichert wurde der Gottesdienst erst nach der konstantinischen Wende. Da floss die Architektur der heidnischen Tempel in den Kirchenbau ein. Und da nahm der christliche Gottesdienst eben auch heidnische Musikformen auf.
Indem die Musik Verbindungen schafft, überwindet sie Grenzen. Das kann sie nur, weil sie mit dem Heiligen Geist verwandt ist. Der Geist ist ein Hauch, oder ein Wind. Die Musik ist ein sehr feiner Hauch, genauer gesagt, es sind unzählige Windstösse, die in geheimnisvoller Ordnung unsere Ohren und unsere Seele erreichen. Der Pianist Andràs Schiff legt in einem jüngst erschienenen Buch grossen Wert darauf, dass die Musik aus der Stille kommt. Sie kündet von einer anderen Welt, und zwar auch dann, wenn es keine «geistliche Musik» ist. Auch diese Grenze überschreitet die Musik. Profane Musik ist ebenfalls geistlich. Das beste Beispiel dafür ist Johann Sebastian Bach, der fast durchwegs mit Kirchenmusik beauftragt war, aber zugleich die Musik schlechthin revolutionierte. Sein Wohltemperiertes Klavier mit den 24 Präludium 24 Fugen durch alle Tonarten hindurch ist das erste systematische Werk, wo die Oktave in zwölf gleichstufige Halbtöne eingeteilt ist. In diesem System musizieren alle westlichen Musikstile bis heute.
Musik wird durch das Gehör aufgenommen. Deshalb sollte es nicht so drauf ankommen, wie Musiker und Musikerinnen aussehen. Aber ein bisschen schon. An einem Musikfest und am Konzert freuen wir uns nicht nur über die Gesänge, Klänge und Harmonien, sondern auch über die Farben, Formen und Uniformen. Ausserdem erwähnt die Bibel, dass auch David gut aussah. Die Musiker und Musikerinnen sehen im Konzert gut aus, und das erhöht die Freude an der Musik.
Noch etwas: Musik zu hören ist schön und leicht. Sie zu spielen ist dagegen anspruchsvoll und oftmals gar extrem schwierig. Schon im Alten Testament gab es professionelle Musiker, die hoch angesehen waren. Das ist heute noch so, und auch nichtprofessionelle Musiker verdienen Anerkennung und Dank. Die Übungsstunden, Schweisstropfen und Tränen, die hinter einem Konzert stecken können, sollen jedoch die Zuhörer nicht belasten. Sie dürfen sich einfach erfreuen und trösten lassen. Trost brauchen wir auch dann, wenn es uns besser geht als dem König Saul. Im Evangelium wird der Heilige Geist Tröster genannt. Geben Sie also zwischendurch der Stille Raum, damit die Musik und der Heilige Geist Sie berühren, entführen und trösten.
Zürcher Bote Pfingsten 2017