Lasst uns vom Tod reden

Die Bekämpfung der Corona-Infektion setzt die Priorität bei der Vermeidung von Todesfällen. Als vom Leben verwöhnte Menschen müssten wir einen andern Blick auf den Tod wagen.

Seine Erzählung «Die Nacht» beginnt Elie Wiesel mit dem Küster-Mosche in einer jüdischen Gemeinde in Siebenbürgen. Mosche war arm, unbeholfen, hilfsbereit und geliebt. Eines Tages wurde er mit einer Gruppe anderer Juden im Viehwagen abtransportiert. Als er Monate später als einziger zurückkehrte, war er verstört und erzählte, dass die Deportierten in Polen von der Gestapo gezwungen wurden, tiefe Gräben auszuheben. Als die Arbeit getan war, wurden alle erschossen, in die Gräben gestossen und zugedeckt. Mosche entkam durch Zufall und kehrte halsbrecherisch zurück, um seine Leute zu warnen. Sie unterschätzten die Gefahr und fielen schliesslich ebenfalls dem Massenmord zum Opfer.
Der Tod scheint die menschliche Risikoeinschätzung oft zu überfordern. Zwar wissen wir, dass wir sterben müssen, doch lässt sich dieses Wissen nur schwer ins Leben integrieren. Die frühesten Spuren menschlicher Kultur beweisen, dass der Mensch seine Verstorbenen begräbt. Die Motive waren manchmal unklar, doch zweifellos wollte der Mensch sein Verhältnis zu den Toten irgendwie regeln und in Ordnung bringen. Wir können die Toten nicht ignorieren. Damit trieb die Kirche, als sie über die Deutungshoheit verfügte, Schindluder. Das Eingehen der Verstorbenen ins Reich Gottes, im Evangelium aus Gnade verheissen, wurde zahlungspflichtig. Mit der Aufklärung ebbte der Missbrauch ab, und der Tod erschien als biologisches Phänomen. Das hat freilich die Klarheit nicht geschärft. Niemand gibt sich damit zufrieden, dass er mit der Weitergabe des Lebens seine Funktion erfüllt habe und dass sein Sterben dem Fortgang des Lebensstroms dienlich sei. Die biologische Auffassung hat die Ablehnung gegenüber dem Tod verstärkt. Er wird mit allen Mitteln hinausgeschoben.
Weil der Tod sprachlos macht, vermögen ritualisierende Formen dem Leben Schutz und Halt zu geben. Nicht die keimfreie Lobrede auf den Verstorbenen ist tröstlich, wohl aber die Entdeckung und der Hinweis, dass die Liebe und das Heil Gottes am Verstorbenen gewirkt haben; und dass er oder sie nach dem Hinschied gut aufgehoben ist. Die religiöse Sprache leistet dabei einen Dienst, der durch nichts anderes zu ersetzen ist. Besonders das Christentum, dessen Symbol das Kreuz ist, kann die Tür zu Einsichten über den Tod öffnen. Sie beginnen mit dem Blick auf die eigene Endlichkeit. Der Psalm 90 vergleicht den Menschen schnöde mit dem Gras, das am Morgen blüht und am Abend welkt und verdorrt (V. 6). Dass solche Gedanken schwer fallen, zeigt das Verhalten der Jünger angesichts der sich anbahnenden Verhaftung und Hinrichtung Jesu. Sie schliefen im Garten Gethsemane ein und überliessen Jesus seiner Verzweiflung. Petrus bestritt nachher mehrmals, ihn zu kennen, um sein eigenes Leben nicht zu gefährden.
Die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus war so radikal, dass sie den Tod mit einschloss und damit alles Religiöse und Rationale überstieg. Hier steckt der Keim zum Verständnis der Aufgabe, die der Tod dem Leben stellt: Die Verneinung und die Bejahung des Todes müssen zueinander finden. Es gab Zeiten, da wurde grosses Gewicht auf die Ars moriendi – die Kunst zu sterben – gelegt. Die Menschen bereiteten sich intensiv auf das Sterben vor, bis hin zur Verweigerung gegenüber den Aufgaben des Lebens. Unsere Kultur benötigt wohl eine kleine Dosis davon, nachdem sie die Ars vivendi bis zum Exzess hochgeschraubt hat. Auf jeden Fall wird die Frage, ob das Leben unter allen Umständen das höchste Gut sei, unausweichlich.
Die Bejahung dieser Frage ist weit verbreitet. Wir schätzen das Todesrisiko hoch ein, und die Regierungen befinden sich mit ihren rigorosen Massnahmen nahe am Puls der Menschen. Aber kennen wir die andern Risiken, die wir damit eingehen, etwa dass die spätere medizinische Versorgung geschwächt werden, und dass die staatliche Bevormundung sich verfestigen könnte? Ist es nachhaltig, wenn der Staat erneut Gelder flutet und damit den Boden für die spätere Gesundung verseucht? Die starre Fixierung auf möglichst wenig Todesfälle könnte ökonomische und soziale Verwerfungen im Schlepptau führen, die Schlimmeres bewirken. Der Tod stellt für viele Problemlösungen einen disziplinierenden Ernstfall und eine Horizonterweiterung dar. Seit 150 Jahren hat sich das Leben der Bürger jedes Jahr um durchschnittlich 3 Monate verlängert, in Summa um 40 Jahre. Muss es so weitergehen? Die Hoffnung auf die Auferstehung könnte uns gelassener machen. Als vor genau 75 Jahren der Theologe Dietrich Bonhoeffer auf Hitlers Befehl erhängt wurde, geschah dies, weil er nicht sein Leben, sondern die Wahrhaftigkeit als das höchste Gut betrachtete. Eine solche Priorität ist auch für Ungläubige möglich und vielfach bezeugt. Wo das Leben nicht das höchste Gut ist, «dort verlangt man vom Leben keine Ewigkeiten, dort nimmt man vom Leben, was es gibt, nicht Alles oder Nichts, sondern Gutes und Böses; man hält es nicht krampfhaft fest und wirft es nicht leichtsinnig weg, begnügt sich aber mit der bemessenen Zeit und spricht nicht irdischen Dingen Ewigkeit zu.» (Bonhoeffer)

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