Wehe euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler! Aussen haltet ihr Becher und Schüssel rein, inwendig aber sind sie voller Raub und Gier. (Matthäus 23,25) – Aussen fix und innen nix, sagt eine saloppe Redensart. Die Jesusworte schürfen tiefer. Sie gehören zu den Weherufen über diejenigen, die stets das Gute und Gottgefällige tun wollen. Damals waren es die Schriftgelehrten und Pharisäer. Im Mittelalter waren es die Wahrheitshüter der Kirche, und heute sind es die Weltverbesserer aller Art. Ihre Absicht ist nicht, andere zu täuschen. Vielmehr glauben sie selbst an ihre Mission und täuschen mit ihrem Röhrenblick zunächst sich selbst. Schwer täuschen kann man sich über die längerfristigen Auswirkungen von Aktionen, die dem Guten und Vollkommenen gewidmet sind. Bei der Entwicklungshilfe beispielsweise gibt es inzwischen lange Listen von Projekten mit höchstem ethischen Anspruch, die in der Gesamtbilanz mehr geschadet als genützt haben. Grundsätzlich ist zu unterscheiden zwischen der Gesinnungsethik und der Verantwortungsethik. Menschen, die täglich um die Unterscheidung zwischen Gut und Böse kreisen, sind Gesinnungsethiker. Sie leben im ständigen Prüfungsmodus – richtig oder falsch? Die Verantwortungsethik hingegen weiss, dass nicht alles machbar und nicht alles heilbar ist. Sie blickt über die vordergründige Handlung hinaus ins Ungewisse. Und sie lässt sich von der Liebe leiten.
Die Corona-Bekämpfung darf sich nicht von der Gesinnungsethik leiten lassen. Das Notrecht angesichts der Pandemie ist nicht sozialstaatlich, sondern rechtsstaatlich begründet. Es geht um Entschädigungen für Eingriffe in die Wirtschaftsfreiheit, nicht um Umverteilung. Verluste wird die Privatwirtschaft gleichwohl erleiden. Die Solidarität könnte darin bestehen, dass auch die Saläre der Staatsangestellten und der Umwandlungssatz der Renten für 2020 vorübergehend gesenkt würden. Das wäre solide Verantwortungsethik und solidarische Liebe. Damit das Geschirr auch inwendig nicht verseucht wird.
Weltwoche 16/2020