Verzweiflung

Da sagt Jesus zu ihnen: Meine Seele ist zu Tode betrübt, bleibt hier und wacht mit mir. (Matthäus 26,38) – Unmittelbar vor seiner Verhaftung ging Jesus mit seinen Jüngern durch den Garten Getsemane. Er bat Gott, der bittere Kelch des Leidens möge an ihm vorübergehen. Seine Jünger, anstatt ihm an der Schwelle zum Leiden beizustehen, waren eingeschlafen. Jesus war allein. Beim Wort Leiden denkt man zuerst an körperliche Schmerzen, Krankheiten, Verletzungen oder Misshandlungen. Auch davon wurde Jesus nicht verschont. Aber die Leidensgeschichte beginnt mit der Verzweiflung. Damit stellt das Evangelium eine Erfahrung heraus, die vielen Menschen schrecklich bekannt ist. Zwar bleibt sie von aussen unsichtbar und wird meist verschwiegen. Die Ursache der Verzweiflung kann, wie hier, darin bestehen, dass man in der Not von seinen treusten Gefährten verlassen wird und mit seinen innersten Gefühlen und Regungen einsam dasteht. Die Verzweiflung kann aber völlig grundlos und rätselhaft sein. Das ist höchst beirrend in einer modernen Welt, die für alle Phänomene eine Erklärung und für alle Probleme eine Lösung zu kennen scheint.
Das geht auf Hegel zurück, in dessen Denkgebäude alles seinen Platz hatte. Diesem Welt-, Menschen- und Gottesbild setzte der Däne Søren Kierkegaard zunächst einmal sich selbst entgegen. Kierkegaard war zwar komfortabel aufgewachsen, sah sich jedoch früh der Verzweiflung ausgeliefert. Er studierte Theologie, ohne ins Pfarramt zu gehen. Und er verlobte sich mit der geliebten Regine, ohne sie schliesslich zu heiraten. Er fühlte sich untauglich, aus Verzweiflung, und beschrieb sie als «Krankheit zum Tode». Ihre Qual besteht darin, dass man nicht stirbt und zugleich ohne Hoffnung auf Leben und Vitalität ist. Ob die Verzweiflung ein Vorzug oder ein Mangel sei, fragte sich Kierkegaard. Unerwünscht ist sie auf jeden Fall, also ein Mangel. Gleichwohl ist sie ein Vorzug, weil nur der Mensch ihr verfallen kann. Die Verzweiflung macht ihn aufs Geistige und auf Gott aufmerksam.

Weltwoche 9/2020

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