Die Polit-Schlange

Da sprach die Schlange zur Frau: Mitnichten werdet ihr sterben. Sondern Gott weiss, dass euch die Augen aufgehen werden und dass ihr wie Gott sein und Gut und Böse erkennen werdet, sobald ihr davon esst. (Genesis 3,4-5) – Die Erzählung von Adam und Eva schildert eine beneidenswerte Lebensqualität: Adam, zuerst allein, hatte den ganzen Garten Eden mit einer kleinen Einschränkung zur Verfügung. Er bebaute und pflegte ihn. Dann schuf ihm Gott eine Gefährtin, deren Anziehungskraft ihn überwältigte. Kann man sich ein schöneres Dasein wünschen? Friedlich und nackt im Garten, beschäftigt mit Gartenarbeit, Zeit für Erotik, ohne Neurosen und ohne Politik? Das ist genau die Lebensform, die wir daheim oder auf unberührten Inseln zu finden hoffen.
Doch dann geschieht etwas Überraschendes: Ein Schlangenwurm taucht auf und setzt den Menschen – zuerst der Frau – den Floh ins Ohr, das Verbot, vom Baum der Erkenntnis in der Mitte des Gartens zu essen, sei eine Demütigung und müsse abgeschafft werden. Alles müsse anders werden. Jeremias Gotthelf nannte die Schlange den ersten Politiker. Die Politiker stänkern gerne an der menschlichen Gemeinschaft herum, damit sie sie nach ihrem Gusto «verbessern» können. Alles muss anders werden. Seitdem die natürlichen Lebensgemeinschaften Staatssache sind und laufend umgekrempelt werden, fühlt sich die Politik für alles zuständig. Ob ein Kalb ins Güllenloch fällt, ob die Alten depressiv oder die Kinder zu dick sind – immer «ist die Politik gefordert». Die Politik hat durchaus ein paar natürliche Aufgaben (die sie übrigens zusehends vernachlässigt). Deshalb präzisiert Gotthelf, die Schlange sei der erste künstliche Politiker. Diese haben inzwischen überall die Mehrheit. Ihre Verbesserungen haben vieles verschlimmert. Wie bei Adam und Eva. Um ihren Stricken zu entkommen, muss man sich umsehen und merken, dass wir eigentlich im Garten Eden leben. Handlungsbedarf besteht immer, aber kein politischer. Verbesserungen kamen und kommen stets von anderswo.

Weltwoche 10/2020

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