Sintflut und apokalyptische Zustände sind Desaster, die in der Bibel beschrieben werden. Sie bilden den Hintergrund, vor dem die Rettung inszeniert wird: das Wunder der Schöpfung kann so ein weiteres Mal mit grosser Dramatik vor Augen geführt werden.
Die Umgangssprache benützt den Ausdruck «apokalyptisch» für den worst case. Filme und Science-Fiction-Romane haben den Ausdruck stärker geprägt als die Bibel, der er entnommen ist. Apokalypse heisst «Enthüllung, Offenbarung» und ist der Name des letzten Buches im Neuen Testament, der «Offenbarung des Johannes». Betrachtet man dieses Buch statistisch, so findet man durchaus 150 Verse mit Unglücksfällen und Katastrophen. Ebenso bietet es jedoch rund 150 Verse mit Trost und Hoffnung, sowie etwa 120 Verse, die direkt Gott und Christus betreffen. Dass die Apokalypse zum Paradigma für den worst case wurde, war nicht zwingend. Das hängt eher mit einer inneren Disposition zusammen, die uns Menschen eigen ist.
Die tiefste Anfechtung, mit der der Mensch leben muss, ist das Wissen um den eigenen Tod. Um tote Artgenossen trauern können auch Tiere, doch ist kaum anzunehmen, dass sie vom Verlust auf den eigenen Tod schliessen. Der Mensch, sofern er nicht selber darauf kommt, erfährt vom eigenen Tod durch die Sprache. Dass von mir dereinst nichts mehr übrig bleiben wird, kann die Grundfesten meines Wesens erschüttern. Dürrenmatt behauptete sogar, die ganze Kultur sei gegen den Tod gebaut. Das mag übertrieben sein. Aber zweifellos sind wir bemüht, die Todesschatten, insbesondere das Welken unseres Körpers, zu verhindern oder zu verschleiern. Wir hassen den Tod, doch weil er sich nicht vertreiben lässt, gibt es die Alternative, ihn zu lieben. Das Umschlagen vom Todeshass zur Todesliebe lässt sich auch kulturgeschichtlich dokumentieren. Mit der Aufklärung übernahm der Mensch die Regie und machte aus der Schöpfung die Werkstatt seiner Projekte. Was dabei herauskam, ist bewundernswert. Noch kein Geschlecht verschaffte seinen Ärmsten eine vergleichbare Lebensqualität, und noch nie war der Respekt vor jedem einzelnen Menschen so hoch wie heute.
Allerdings steckte die Aufklärung die Ziele zu hoch: sie vermochte weder das Paradies zu errichten noch den Tod auszuschalten. Als das im 20. Jahrhundert nicht mehr zu übersehen war, schlug der Anspruch ins Gegenteil um. Wenn wir schon nicht in der Lage sind, die Welt zum Paradies zu machen, gelingt es uns wenigstens, sie zu zerstören. Die Vision einer durch Menschenhand zerstörten Erde ist die auf den Kopf gestellte Hybris der Aufklärung. Sie ist keineswegs aus der Luft gegriffen, sondern stützt sich auf Prognosen. Die Prognosen des Club of Rome über «Die Grenzen des Wachstums» wurden zwar seit 1970 mehrmals widerlegt und korrigiert. Gleichwohl erzeugten sie ein Umweltbewusstsein und veränderten das politische Klima, ja sie bewirkten sogar enorme Verbesserungen bei der Energienutzung.
Blinkende Alarmlampen können Prioritätenordnungen neu aufmischen und Strukturen verändern. Umweltschutzprojekte, mit einer Prise Panik gewürzt, können Gelder freisetzen, die eigentlich gar nicht vorhanden sind. Terrorprävention, von Angstmache der Medien unterstützt, kann Bürger- und Freiheitsrechte gefährden. Rettungsaktionen, und seien sie auch nur zugunsten einer Fluggesellschaft, können den Rechtsstaat übertölpeln, wobei die ordnungspolitischen Flurschäden nachhaltiger sind als die Rettung. «Feuerwehreinsätze» im Megabereich sind problematisch, weil unklar ist, ob es sich wirklich um einen Brand handelt. Dennoch sind solche Einsätze populär und erfreuen sich oft auch der Zustimmung der Kirchen. Grundlage dafür bildet die Auffassung, Gott handle durch die Politik. Dieser Standpunkt ist das Gegenteil von Hoffnung. Die Hoffnung in der Apokalypse hat nichts gemein mit jener Selbstzufriedenheit, die von politischen oder sonstigen guten Werken ausgeht. Von den Problemlösungen der Gegenwart führt kein direkter Weg ins Reich Gottes. Es gibt Zeiten, wo alles Suchen nach neuen Wegen die Sache nur schlimmer macht, weil zwei Übel zur Wahl stehen, zum Beispiel Abermillionen von Menschen in Armut zu belassen oder horrende Umweltschäden hinzunehmen. Da greifen die Theorien von der Kontinuität der Geschichte zu kurz.
Genau an diesem Punkt tritt nun die Hoffnung auf den Plan, die Botschaft der Apokalypse. Die Zukunft ist blockiert, und dennoch gibt’s die wahre Zukunft, es gibt eine Bresche und einen Sinn. Gott ist nicht der Götze, den man in die Ecke stellt, um die Zukunft selber zu machen. Diesem Götzen widerspricht das Alte Testament so entschlossen wie das Evangelium und die Apokalypse. Gott ist derjenige, der das Werk vollendet und den Weg in die Zukunft öffnet. Was weder Revolutionen noch Wissenschaft und Technik vermögen, nämlich der Geschichte Sinn zu verleihen, vermag die Botschaft vom Reich Gottes und von der Liebe.
Damit wird Gottes Freiheit offenbar. So frei er war, die Welt zu schaffen, so frei ist er auch, sie zu vernichten. Seine Freiheit ist einzig durch die Liebe begrenzt. Den worst case hat er in der Sintflutgeschichte durchgespielt (Genesis 6–9). Beim Lesen dieser Geschichte wird bald deutlich, dass es kein historischer Bericht ist. Manches ist märchenhaft, einiges widersprüchlich. Trotzdem besteht kein Zweifel, dass die Menschen, die das erzählten, von einem entsprechenden Ereignis gewusst haben müssen, zumindest vom Hörensagen. Aus der Geschichte ist bekannt, dass einer der größten Tsunamis vor ungefähr 3’600 Jahren, nach dem Explosionsausbruch der griechischen Kykladeninsel Santorin, entstand. Eine 30 Meter hohe Flutwelle brandete gegen die Küste Kretas und erreichte eine Stunde später das Nildelta. Die Urzeitmythen von einer «Sintflut» könnten sich auf ein solches Ereignis beziehen. In der biblischen Erzählung kam das Wasser ja nicht nur von oben, sondern auch von unten.
Die biblische Sintfluterzählung zeigt grosse Ähnlichkeiten mit dem sogenannten Gilgamesch-Epos aus Babylonien. Dort bestand Uneinigkeit zwischen den Göttern. Die Götter beschlossen die Vernichtung der Schöpfung, doch einer war dagegen und sorgte für Rettung in einem Riesenschiff. In der Bibel gibt es nur einen Gott. Der widerspricht sich selber; er beschliesst das Verderben und startet zugleich eine Rettungsaktion. Wichtig ist, dass die Fluterzählung der Schöpfungsgeschichte zugeordnet ist. So wurde die Katastrophe offensichtlich wahrgenommen. Gibt es ein Weiterleben, so ist das wie eine Neuauflage der Schöpfung.
Die Begründung der Sintflut als Strafe Gottes stösst ab. Die Vorstellung eines mechanischen Zusammenhangs zwischen Tun und Ergehen war im Alten Testament lange lebendig. Endgültig überwunden wurde sie erst bei Hiob. Ein worst case ist keine Strafaktion Gottes. Aber es geschieht den betroffenen Menschen etwas Ähnliches wie bei einer Strafe. Strafe ist Demütigung. Demütigung, wenn auch anderer Art, geschieht gleichfalls durch Katastrophen. Die überlebenden Menschen verlieren Hab und Gut, haben Tote zu beklagen, werden traumatisiert, sind abhängig von Hilfeleistungen. Demütigung ist eine schlechte Nachricht. Aber Demut, die Verwandte der Demütigung, ist eine Haltung, die dem Menschen wohl ansteht. Was ist Demut?
«Demut» ist vom althochdeutschen «dio-muoti» abgeleitet und heisst dienstwillig. Es bezeichnet die Haltung eines Knechtes oder einer Magd. Dass es während Jahrhunderten ein Lieblingswort der Kirche war, tat ihm nicht gut. Demut kann man auch zur Schau stellen, als gebeugte Körperhaltung, Unterwürfigkeit, leidenden Gesichtsausdruck. Echte Demut, also Dienstbereitschaft, erfordert das nicht. Sie ist das Gegenteil des Hochmuts. Das Alte Testament kennt die Demut als Abhängigkeit des Menschen von Gott. Im Neuen Testament und im Christentum orientiert sich die Demut an Jesus Christus. Sie ist Ausdruck jener Haltung, in der wir uns an ihm orientieren und unser Denken, Fühlen und Handeln von der Liebe leiten lassen. Die Demut ist an die Erkenntnis geknüpft, dass wir die Dinge nicht unter Kontrolle haben; dass beispielsweise eine kleine Erschütterung in der Erdkruste genügt, um halbe Kontinente zu zerstören.
Wer diese Erkenntnis gewinnt, erwartet vom Menschen wenig, von Gott aber viel. Diese Umkehrung ist der Angelpunkt der Sintflutgeschichte und das Leitmotiv der Apokalypse. Die Katastrophe bildet nur den Hintergrund. Im Vordergrund steht eine Rettungsaktion, so gigantisch, dass sie auf die leichter verdauliche Ebene eines Märchens transponiert werden musste. Es gibt keinen logischen Grund, weshalb es Leben und Überleben geben sollte. Dafür gibt’s nur den unlogischen Grund, dass Gott es aus Liebe so will. Die gleiche Liebe gibt den Ausschlag dafür, dass auch der worst case begrenzt ist und Wege in die Zukunft öffnet.
Schweizer Monat
Dossier: «Worst Case» Ausgabe 949 – Oktober 2006
Nach der Sintflut (7)