Die Stadt

Denn Abraham wartete auf die Stadt mit den festen Fundamenten, deren Planer und Erbauer Gott ist.(Hebräer 11,10) – Das griechische Wort für Stadt ist Polis, aus dem man unschwer die Politik heraushört. In der Bibel wurde das Wort weitgehend entpolitisiert. Zum Inbegriff der Stadt wurde Jerusalem, wo der Tempel die Nähe Gottes darstellte. Stadtbevölkerungen waren vielfältig zusammengesetzt und erreichten dank der Konzentration von Handwerk und Bildung einen hohen Wohlstand. Da die Stadtbewohner aus verschiedenen Richtungen stammten, verlor die Verwandtschaft an Bedeutung. Dorfgemeinschaften hingegen waren als Sippen und Horden konstituiert. In der Stadt galt das Individuum mehr, auch wenn in den antiken Städten Sklaven gehalten wurden. Durch ihre Offenheit und Vielfalt wurde die Stadt zu einem Abbild für die Gemeinschaft im Reich Gottes. Sogar der Nomade Abraham sehnte sich nach ihr.
Im Mittelalter galten die Städte als Horte der Freiheit gegenüber den Zentralmächten Kaiser und Papst. «Stadtluft macht frei.» Aber an den Stadtmauern war ersichtlich: Offene Gesellschaften brauchen einen Schutz, ähnlich wie Gärten, die gegen den Wildwuchs abgegrenzt werden müssen. Heute sind auch die meisten Dörfer offene Gesellschaften und bilden ein Stück Gottesreich ab. Umgekehrt zeigen manche Stadtregierungen den Hang zum Hordendenken, wenn sie – wie beispielsweise in Zürich – als Meinungswächter auftreten und Demonstrationen je nach Anliegen erlauben oder verbieten. Selbst Radaubrüder geniessen Nachsicht, wenn sie der Gesinnungshorde nahestehen. Macht Stadtluft noch frei? Zürich hat einst neunzehn Dörfer eingemeindet. Vielleicht gebärden sich seine Behörden deshalb oft provinziell und hordenähnlich. Sie könnten sich manch ein weltoffenes Kaff zum Vorbild nehmen.
Weltwoche 38/2020

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