Recht und Macht

Die Bibel ist kein politisches Rezeptbuch. Zwar bin ich überzeugt, dass ihre Staatsauffassung dem Liberalismus nahesteht, doch gehöre ich mit dieser Auffassung zur Minderheit. Kirchlich engagierte Leute neigen mehrheitlich eher der Sozialdemokratie zu.
Bei aller Diversität gibt die Bibel ein paar erstaunlich klare politische Hinweise. Dazu gehört die Würde des Menschen, die zwingend nach Rechtsgleichheit ruft. Ein weiteres unerschütterliches Prinzip heisst »Recht vor Macht«. Der Urknall des Judentums war ja der Auszug der Israeliten aus Ägypten. »Ich bin der HERR, dein Gott, der dich heraufgeführt hat aus dem Land Ägypten.« (Psalm 81,11) In Ägypten stand der Pharao als Gottmensch an der Spitze des Staatswesens. Sämtliche Produktionsmittel gehörten ihm. Er vergab Ländereien zur vorübergehenden Nutzung und forderte dafür Frondienste ein. Es war ein Sozialismus avant la lettre. Solche Systeme beruhen darauf, dass die Macht über dem Recht steht.
Der Auszug aus Ägypten und die Überreichung der Zehn Gebote, die sich an den Einzelnen richten, markiert einen entscheidenden Wendepunkt der Kulturgeschichte: Die Macht wird dem Recht unterstellt. Zwar wurde dieses Prinzip erst mit grosser Verspätung umgesetzt. In den meisten Ländern gilt es bis heute nicht. Und wenn nicht alles täuscht, vollzieht die Türkei nach der kürzlichen Abstimmung eine Kehrtwende zu »Macht vor Recht«.
Europa sollte daraus lernen. Nicht indem es auf die Türkei zeigt. So wie die Israeliten zeitweise die ägyptische Despotie nachäfften, so schlummert auch in jedem Europäer ein Ägypter, beziehungsweise ein Mitläufer des starken Mannes. »Aber mein Volk hörte nicht auf meine Stimme, Israel gehorchte mir nicht.« (Psalm 81,12) Die Freiheit in Europa ist nicht so gefestigt, wie sie sich anfühlt. Vor wenigen Jahrzehnten waren gut die Hälfte der EU-Mitgliedsstaaten noch stramme Diktaturen. Und je mehr Zuständigkeiten der Staat erhält, desto schwerer wiegt seine Macht. Und desto grösser ist das Risiko, dass er das Recht beugt.
Weltwoche 17/2017

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