Der Anfang der Weisheit ist die Furcht es Herrn. (Psalm 111,10) – Die Weisheit scheint eine grosse Sache zu sein. Schon der Klang des Wortes hebt sich ab von der Wissenschaft, wie man sie aus Büchern, Labors und Vorträgen kennt. Es ist ja längst deutlich geworden, dass an den wissenschaftlichen Hochschulen auch Leute ihren Platz gefunden haben, die keine Weisen sind. Die Weisheit steht aber auch über der Schlauheit. Selbst Oberschlaue können in entscheidenden Momenten töricht handeln. Und ähnliches gilt für die Gescheitheit. Nicht jeder Gescheite, ja nicht einmal jeder Hochbegabte ist weise. In Literatur und Kunst werden weise Menschen oft als Alte dargestellt. Es mag sein, dass der Erfahrungsschatz zur Weisheit beiträgt. Aber als mittlerweile nicht mehr junger Mann bin ich auch hier skeptisch. «Alter schützt vor Torheit nicht».
Was also ist Weisheit? Weisheit ist Lebenskunst und Lebenskunde. Kunst und Kunde sind von können abgeleitet, sodass die Aussage nahe liegt: Weisheit heisst, leben zu können, ohne ein Durcheinander oder ein Unheil anzurichten. Als Salomo sein Amt als König antrat, durfte er sich von Gott etwas wünschen. Er bat um ein hörendes Herz, damit er zwischen Gut und Böse unterscheiden könne. Dass er nicht um ein langes Leben oder um Reichtum bat, gefiel Gott, und so versprach er ihm ein weises und verständiges Herz (1. Könige 3,5-15). Salomo trat sein Amt ohne Einbildung an. Das ist der springende Punkt. Wer kennt nicht Beispiele von Menschen, auf die die Worte des Apostels Paulus passen: Da sie sich für weise hielten, sind sie zu Narren geworden? (Römer 1,22 Lutherbibel) Was die Weisheit fördert, ist das Bewusstsein, dass eines nottut, nämlich ein verständiges Herz für seinen – egal ob königlichen oder unscheinbaren – Dienst. Was sie ausserdem fördert, ist das Unterscheidungsvermögen zwischen dem Wichtigen und dem Unwichtigen, zwischen dem was zu tun und dem, was unbedingt zu vermeiden ist. Dazu verhilft die Furcht des Herrn. Jeder kann sie kennenlernen.
Weltwoche 34/2019