Freunde und Interessen

Niemand hat grössere Liebe als wer sein Leben einsetzt für seine Freunde. (Johannes 15,13) – Es kommt vor, dass einem bei einem Erlebnis unvermittelt ein Bibelvers einfällt. So erging es mir unlängst in der Normandie. Wandermöglichkeiten gibt es dort reichlich, doch stösst man zwangsläufig auch auf die Kriegsereignisse von 1944. Sie sind es, welche zum obigen Bibelvers passen. Frankreich war von Hitlerdeutschland geknebelt, als die Alliierten sich zur Invasion entschlossen. Der Aufwand war unermesslich, musste doch in Südengland ein Hafen gebaut und über den Ärmelkanal geschleppt werden. Er bestand grossenteils aus riesigen schwimmenden Betonkörpern, die dann am Zielort geflutet und auf dem seichten Meeresboden abgesetzt wurden. Die alliierten Truppen waren weitgehend Amerikaner, Briten und Kanadier. Franzosen stellten beim Auftakt nur zwei Prozent der Bestände. Die Alliierten hatten über 70.000, die Deutschen mit ihren Verbündeten 270.000 Gefallene zu beklagen. Der Besuch der Friedhöfe ist tief berührend. Manche britische Grabsteine enthalten Sprüche der Angehörigen. Ein Beispiel: Das Verstehen wächst, wenn die Tränen versiegen.
Gewiss handelten die Alliierten auch im eigenen Interesse. Aber dass «Staaten keine Freunde, sondern nur Interessen haben», gilt nicht absolut. Das Zitat stammt von Charles de Gaulle. Ausgerechnet er war von Roosevelt und Churchill freundschaftlich behandelt worden. Die enormen Opfer kamen primär Frankreich zugute. Es hätte gute Gründe, die Briten in der Brexit-Krise ebenfalls freundlich zu behandeln. Der EU-Chefunterhändler Barnier scheint aber fast froh zu sein, wenn die Briten weg sind. Dann fehlt den nördlichen EU-Ländern die Sperrminorität, und die mediterranen Schulden-Champions können beliebige Transferzahlungen durchsetzen. Hier steckt ein unauffälliger Keim für ernsthafte künftige Konflikte. Entschärfung böte die Einsicht, dass Menschen und Staaten auch mal evangeliumsgemäss handeln können – und das zuweilen wirklich getan haben.
Weltwoche 38/2019

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