Ein theologisches Axiom

Ich bin der HERR, dein Gott, der dich herausgeführt hat aus dem Land Ägypten, aus einem Sklavenhaus. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir. (Exodus 20,2f) – Das erste Gebot ist ein Kurzbericht über ein zeitliches Ereignis und zugleich die Anrede einer Person an eine andere Person. In der Anrede Ich – du! Tritt Gott auf den Plan. Karl Barth nannte das erste Gebot ein theologisches Axiom. Der Ausdruck ist der Mathematik entliehen und meint dort einen Grundsatz, der nicht von anderen Sätzen abgeleitet, das heisst nicht bewiesen werden kann. Die Axiome sind aber keine unbegründete Annahmen, sondern gelten als unmittelbar einsichtig. Der Grundsatz, den das erste Gebot zum Ausdruck bringt, ist die Tatsache, dass die Beziehung zwischen Mensch und Gott sich als Geschichte abspielt. Die Beziehung hängt also nicht zeitlos in der Luft, auch wenn die Bibel manchmal von der Ewigkeit Gottes redet. Gott redet zum Menschen und handelt an ihm in menschlicher Art, eben in der Zeit und unter den Bedingungen der Endlichkeit. Wenn wir versuchen, eine ewige Wahrheit aus dem ersten Gebot herauszudestillieren, verstehen wir es nicht. Wir müssen vielmehr als Hörer entdecken, dass auch wir aus dem Sklavenhaus befreit sind oder befreit werden. Biblische – und viele andere – Erzählungen wollen ja keineswegs bloss ferne Menschen und Vergangenheiten darstellen. Als blosse Zuschauer gingen uns diese gar nichts an. Sie beschreiben vielmehr Ereignisse, Beziehungen, Konstellationen und Gefühle, die uns bekannt vorkommen; die in uns etwas zum Schwingen bringen, so wie ein Ton eine Saite zum Schwingen bringen kann, die gar nicht direkt gespielt wird. Das geschieht dann, wenn die Frequenz der Saite im erklingenden Ton vorkommt. Die Töne der biblischen Geschichten kommen in uns vor. Wir fragen nach Gott. Bevor er etwas gebietet, handelt er am Menschen, und zwar befreiend. Pseudogötter und gutgemeinte Belehrungen wuchern derart dicht, dass solche Befreiung ebenso aktuell wie notwendig ist.
Weltwoche 38/2019

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