Du sollst dir kein Gottesbild machen… (Exodus 20,4) Unter Religion versteht man die «sorgfältige Beachtung all dessen, was zum Kult der Götter gehört» (Cicero). Die menschliche Seele will sich der Gottheit annähern und ihr Heil sichern. Als Heilsbringer oder -vermittler geben sich oft Menschen – meistens Männer – aus. Friedrich Dürrenmatt bemerkte schalkhaft, Hitler habe das Gottesgnadentum des Kaisers, und der Kommunismus habe die Papstkirche nachgeäfft. Moskau war der Vatikan, der Ministerrat war die Kurie, das Politbüro die Glaubenskongregation und der Parteichef der Papst. Der Sozialismus und der Nationalismus sind Religionen. Sie beruhen auf der Anhänglichkeit zur gleichgesinnten Horde.
Karl Barth schrieb in seiner Kirchlichen Dogmatik: «Religion ist Unglaube; Religion ist eine Angelegenheit des gottlosen Menschen.» Damit spielte er weniger auf die obigen Fälle als auf den kirchlichen Kult an, und stellte ihn der Offenbarung Gottes gegenüber. Offenbarung ist das Zu-uns-Kommen der Wahrheit. Sie trifft uns stets inmitten aller religiösen Betriebsamkeit, die als Unterwerfung, Moral, Kult, Gleichmacherei, Welt- oder Klimarettung und dergleichen ihre Blüten treibt. Religion ist der Versuch des Menschen, dem, was Gott tun will und tut, vorzugreifen und an die Stellt des göttlichen Werkes sein eigenes Konstrukt zu schieben. Mit seinem Gottesbild verdrängt der Mensch die göttliche Wirklichkeit.
Dennoch ist es nicht ratsam, gegenüber den ergreifenden Meisterwerken auf dem Feld der Religion ein Barbar zu werden, mag es auch in Zeiten eines wachen christlichen Empfindens angebracht sein, Tempel niederzureissen, Heiligenbilder zu zerstören, Glasmalereien zu zerschlagen und Orgeln auszuräumen. Aber meistens wird doch all dies im Namen des wahren Glaubens wieder hergerichtet. Deshalb gebietet Barths Satz, Religion sei Unglaube, eine gewisse Demut. In der Ehrfurcht vor Gott hat auch der Respekt vor menschlichen Werken seinen Platz. Sie unterliegen nicht unserem, sondern Gottes Gericht.
Weltwoche 22/2019