Jesus entgegnete ihnen: Brecht diesen Tempel ab, und in drei Tagen werde ich ihn aufrichten. (Johannes 2,19) Nach der Feuersbrunst in der Notre-Dame ist die Welt erleichtert, dass niemand ums Leben kam, und dass die wundervolle Kathedrale noch steht. Die Baumeister der Gotik trugen die Botschaft des Evangeliums durchs Hochmittelalter, als die Kirche korrupt und die Theologie verwahrlost war. Sie bauten in die Höhe, um zu zeigen, dass alles Entscheidende von oben, von Gott kommt. Frankreich bietet viele solcher Meisterwerke, denn es war jahrhundertelang die «Erstgeborene Tochter der Kirche». Seine Könige trugen den Titel «Allerchristlichster König». 1789 und endgültig 1905 kappte dann der Staat die Verbindung zur Kirche. Die religiösen Gefühle lebten jedoch weiter und wandelten sich zur Nationalreligion. Folgerichtig trat nach dem Brand Präsident Macron vors Volk. Einmal mehr probierte er die Schuhe von Charles de Gaulle an, ob sie ihm endlich passen. Zu dessen liebsten Stilblüten gehörte «Notre-Dame la France». Der Staatspräsident war längst zum König und die Nation zur Erlösungsanstalt geworden. Königlich pflegen die Franzosen Ihren Präsidenten zu inthronisieren – um ihn bald darauf als Fälschung zu verschmähen. Und wenn sie in den Strassen der Republik gegen die Obrigkeit wüten, tun sie es nur, um alle Wohltaten von eben dieser Obrigkeit zu fordern. Dieser Dachschaden ist viel älter als derjenige an der Kathedrale. Aber er lässt sich viel geschwinder und gratis (Gratia heisst Gnade) beheben: Es würde genügen, den Staatspräsidenten vom Heilsbringer zum Inhaber eines unvermeidlichen Amtes herabzustufen, und die Nation nicht nur strukturell, sondern auch geistig von der Religion zu entflechten. Das Evangelium von Jesus Christus leistet dabei mehr als vollwertigen Ersatz. Jesus sprach von seinem Leib als dem Tempel. Nebst der erfolgreichen Reparatur wünsche ich den Franzosen solche Re-Formation. Möglichst bevor Marine Le Pen als «Notre Dame» ins Elysée einzieht.
Weltwoche 18/2019