Nichtiges

Wer seinen Acker bebaut, hat genug Brot, wer aber nichtigem nachjagt, dem fehlt der Verstand. (Sprüche 12,11) – Der Spruch hält fest, dass die Menschen in der Regel für den Lebensunterhalt arbeiten müssen, egal ob in der Landwirtschaft, am Werkbank oder im Büro. Die Güter waren über Jahrtausende knapp, und auf Knappheit sind unsere Gene und Köpfe trainiert. Trotz der umfangreichen körperlichen Arbeiten gab es in archaischen Gesellschaften ausgedehnte Ruhe- und Mussezeiten. Nachtschicht war unmöglich, und wer stunden- oder tagelang die gleiche Handarbeit verrichtete, konnte gleichzeitig nichts anderes tun – ausser nachdenken und plaudern. Der gemächliche Lebensrhythmus war vorgegeben.
In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts begann eine Beschleunigung. Damals sanken die Getreidepreise, weil sich wegen der Klimaerwärmung die Ernten verbesserten. Die Menschen gewannen mehr Spielraum und konnten sich Erfindungen und Verbesserungen widmen. Lebensqualität und -erwartung stiegen an, und damit die Bevölkerung. Dennoch blieben die Menschen auf Knappheit getrimmt und entwickelten laufend neue Bedürfnisse, um ihnen nachzujagen. Obwohl wir inzwischen im Eiltempo fahren, produzieren und kommunizieren, haben wir weniger Zeit. Die stetig steigende Aktivierung des Organismus und der emotionalen Erregung ist der berühmte Stress. Er lastet auf unserer Zivilisation wie eine Seuche. Die Bedürfnisse werden problemlos gedeckt, doch werden laufend neue ToDo-Listen erfunden. Zu ihnen gehört die Klimarettung. Dass der westliche Mensch die Erwärmung aufhalten könne, ist eine schwachsinnige Fata Morgana. Die Verbrauchsstatistiken zeigen, dass er das auch gar nicht will.
Was eine Wirkung entfalten kann, ist der Blick darauf, dass wir genug haben. Es geht nicht um methodische Stressbewältigung, sondern darum, mein Tun und Dasein als Zweck und nicht als Mittel für höheres zu sehen. Da eröffnet sich eine Seinsweise in Achtsamkeit und Musse. Nur sie hält mich davon ab, laufend nichtigem nachzujagen.
Weltwoche 49/2019

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