Die Unterschiede zwischen den Menschen wecken bei manchen die Frage, weshalb nicht alle gleich sind. Im römischen Reich zirkulierte dazu das Gleichnis vom Aufruhr gegen den Magen. Die anderen Körperteile protestierten dagegen, für die Fütterung dieses faulen Sackes zu arbeiten, und traten in den Streik. In der Folge wurden sie bald schwach und schwächer. Der Magen war nicht mehr in der Lage, sie mit Energie zu versorgen. Da nahmen sie eben ihre Arbeit wieder auf. Titus Livius hatte das Gleichnis ausgedacht, um den Müssiggang des Adels zu rechtfertigen.
Der Apostel Paulus griff es auf baute es christlich um: Bei allen Unterschieden ist für ihn jedes Glied am Leib wichtig und wertvoll. Mehr noch: „Jene Glieder des Leibes, die als besonders schwach gelten, sind umso wichtiger, und eben jenen, die wir für weniger ehrenwert halten, erweisen wir besondere Ehrerbietung.“ (1. Korinther 12,22f) Diesem Gleichnis wird oft nachgelebt. Aber es gibt Lücken. Auch mir gelingt es nicht immer, dem Servierpersonal im Restaurant oder den Kassiererinnen im Supermarkt die gebührende Beachtung zu schenken. Der Kunde ist König. Bei Paulus ist Christus das Haupt des Gemeinwesens. Alle Glieder haben eine Aufgabe und schulden einander Respekt. Auch denen, die wenig Ansehen geniessen.
Das Ansehen ist der Grund, weshalb manche Berufe akademisiert wurden. Kindergärtnerinnen oder Pflegefachleute werden durch die Matura nicht besser. Sie erschwert bloss die Auswahl der geeignetsten Personen. Der Akademisierungstrend wurzelt in der Absicht, das Ansehen der Menschen zu erhöhen. Hinzu kommt die Akademisierung durch wachsende Gymnasien. Sogar in der Entwicklungshilfe wurde die handwerkliche Ausbildung heruntergefahren. Diese Schwachstelle unserer Zivilisation deckt die Bibel auf. Und verhilft zur Korrektur. Man denke an den Gestank in Neapel und Rom, wenn das weniger ehrenwerte Kehrichtpersonal ausfällt. Das ist Grund genug, die Wertschätzung derer, die einen minderen Job machen, im eigenen Herzen neu anzustossen.
Weltwoche 4/2017