Gottes Ungerechtigkeit

Ich ereiferte mich über die Prahler, als ich sah, dass es den Frevlern so gut geht. Sie leiden keine Qualen bis zu ihrem Tod. (Psalm 73,3f)
»Gott straft sofort«, höre ich zuweilen den Volksmund sagen. Der schalkhafte Unterton ist nötig, denn derjenige, der sofort straft, ist nicht Gott. Gott verweigert öfters Strafmassnahmen. Die Empörung darüber beginnt schon in der Bibel, wie der Psalm 73 zeigt. Berühmt ist der ebenso empörende umgekehrte Fall: Der schuldlose Hiob, der Gott fürchtete und das Böse mied, wurde durch Schicksalsschläge bis aufs Blut gequält. Seine Freunde drangen in ihn, er habe gewiss eine Sünde begangen und möge nachdenken. Sie irrten. Gott kann Ungerechtigkeiten zulassen. Nach entsprechenden Beispielen der Gegenwart muss man nicht lange suchen.
Tatsächlich ist Gott unberechenbar. Zumindest nicht pflegeleicht. Pflegeleichte Gottheiten sind beliebt. Eine Frau erzählte ihrer esoterisch angehauchten Freundin vom Krebsbefall ihres Mannes und bekam zu hören: Jeder erntet, was er gesät hat. Zwar schien jener Patient ein durchschnittlich anständiger Mensch zu sein. Aber wenn er Krebs hat, muss doch etwas faul sein. Niemand bestreitet, dass es für einige Krebsarten ein Risikoverhalten gibt. Aber sehr oft ist es eine Frage von Glück oder Pech. Wäre unser Schicksal bloss das Anzeigesystem unserer Moral, so wären wir allmächtig. Gott wäre unser Vollzugsbeamter. Hier keimt auch krude Grausamkeit: Würden wir einander noch beistehen, wenn Schicksalsschläge durchwegs selbst verschuldet wären? Gott kennt uns. Er weiss, dass die Grenze zwischen Gut und Böse durch jedes menschliche Herz geht, und dass niemand einen Grund hat, sich über andere zu erheben.
In seinem jüngst publizierten Buch schrieb der im März verstorbene Schriftsteller Imre Kertész, den Atheisten bleibe nichts anderes übrig als das Moralisieren. Zuweilen ist sogar die Kirche atheistisch und baut gänzlich auf den Menschen. Wahrheit und Liebe wachsen jedoch nicht da, wo Moral, sondern wo Gottvertrauen ausgesät wird.
Weltwoche 2/2017

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