Aus den Zerwürfnissen zum Frieden

Der Fürsprecher aber, der heilige Geist, den der Vater in meinem Namen senden wird, er wird euch alles lehren und euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe. Frieden lasse ich euch zurück, meinen Frieden gebe ich euch. Nicht einen Frieden, wie die Welt gibt, gebe ich euch. Euer Herz erschrecke nicht und verzage nicht! (Johannes 14,26f)
Jemand antwortete in schwermütiger Stimmung, als man ihn fragte, wo es fehle: «Woran es mir fehlt, weiss ich nicht. Aber es fehlt mir sehr und ich brauche Hilfe.» Dieser Satz trifft auch auf die Empfindungen unserer Zeit zu. Sobald man jedoch herausfinden möchte, was fehlt, sucht jeder den Fehler anderswo. Manche meinen, der Fehler liege im Autoritätszerfall oder im Lustprinzip. In den Ausführungen eines Erwachsenen lese ich: «Schon in der ersten Kindheit verwöhnen wir unsere Kinder durch ständige Leckereien. Die weichliche Art der Erziehung verdirbt Geist und Körper. … Sie wachsen in der Sänfte auf. Kommen sie einmal mit den Füssen auf den Boden, so stehen schon auf beiden Seiten Leute bereit, um sie festzuhalten. Jede Abendgesellschaft dröhnt von unanständigen Liedern. Dadurch sind die Kinder so halt- und willenlos geworden.» – Das Zitat stammt von Marcus Fabius Quintilian, einem römischen Fachmann für Redekunst im ersten Jahrhundert. Es mag sein, dass der jetzige Zustand des christlichen Abendlandes einem schweren Krankheitsfall gleicht. Wir sollten jedoch nicht ohne Tiefenschärfe in die Vergangenheit zurückblicken.
Christen suchen ihre Zuflucht bei demjenigen, der sagt: «Euer Herz erschrecke nicht und verzage nicht!» – Er scheint die Nöte der Menschen zu kennen. Damals sah er das Kreuz vor sich. Er wusste, was für eine Bestürzung und Verwirrung sein Tod auslösen würde. Deshalb wollte er ihnen beim Abschied noch ein Rüstzeug für die Zukunft übergeben. Jesus liebte es, seine Gedanken an das Nächstliegende zu knüpfen. Das tat er auch in der Stunde dieses Abschieds: «Frieden lasse ich euch zurück, meinen Frieden gebe ich euch.» – Dieser Spruch klang in jüdischen Ohren so vertraut wie für uns «Grüezi». Schalom – Friede, so grüsst man einander noch heute in Israel. Jesus hält sich an diese Formeln, aber in seinem Mund werden sie zu sprudelnden, erfrischenden Bächen.
Der Friede ist die Gabe, die Jesus den Jüngern hinterlässt als Hilfe in Not und Aufregung. Diese Gabe ist den Menschen zu allen Zeiten zugedacht. Vielleicht ist unser Zeitalter besonders dringend darauf angewiesen. Es fällt auf, dass trotz einigen Jahrzehnten ohne Krieg noch nicht das eingekehrt ist, was man sich unter Frieden vorstellt. Als das Gleichgewicht des Schreckens vor 25 Jahren zusammenbrach, brachen Kriege aus, die vorher gleichsam mit der Schraubzwinge verhindert wurden. Auch die inneren Debatten sind kämpferischer geworden und werden zuweilen wie Glaubenskämpfe geführt.
Auch viele Häuser entbehren des Friedens. So schreibt jemand: «Kaum je sind Ehe- und Familienbande in dem Umfange und mit der Leichtigkeit gelöst worden wie heute. Man hat weithin gar nicht mehr den Mut, diese Institutionen gegen Zersetzung und Auflösung noch zu schützen, sondern gibt das christliche Ehe- und Familienideal als nicht mehr haltbar auf. … Inzwischen binden sich bereits unzählige an keine Ordnung mehr, sondern lassen ihren Leidenschaften, Launen und Trieben freien Lauf.» – Diese Sätze sind jünger als Quintilian, aber bald 100 Jahre alt. Wir sehen, dass die Nöte zwar ernsthaft sein mögen, aber dass sie nicht erst uns beschäftigen.
Der Blick auf Jesus Christus könnte zeigen, wo der Fehler liegt. Es überrascht, dass bei ihm jede Aufregung fehlt, obwohl doch die gesellschaftlichen Zustände ebenfalls aufgekratzt waren. Jesus steht bei allen Begegnungen und Ereignissen wie ein Fels im Meer. Mit seinen Jüngern, in der Auseinandersetzung mit seinen Gegnern, am Tisch des obersten Pharisäers, bei den Zöllnern, im Seesturm, bei Zachäus in Jericho, selbst beim Einzug in Jerusalem und beim Verhör vor Kaiphas und Pilatus, sogar am Kreuz gibt Jesus ein Beispiel von der ruhigen Gewissheit und von dem Frieden, der nach den Worten von Paulus höher ist als alle Vernunft. Eine solche Ruhe und Gelassenheit fehlt uns. Wenn wir ein wenig davon bekommen könnten, wäre uns geholfen. Ein unlängst erschienenes Buch trägt den Titel «Von der Unruhe der Welt». Der Autor Ralf Konersmann legt dar, dass die dauerhafte Ruhe einst als Bedingung von Glück galt. Heute jedoch wird Unruhe belohnt, das stetige Unterwegs-Sein, die permanente Veränderung. Es fehlt uns die Fähigkeit, die Dinge auf sich beruhen zu lassen.
Ein Chemiekasten für Kinder bietet den Versuch, in ein Glas mit Fenolftalein-Lösung einige Laugentropfen zuzufügen. Sogleich wird aus zwei farblosen Flüssigkeiten eine rote. Eine solche Verwandlung müsste sich auch in uns selber vollziehen, wenn Jesus einige Tropfen seines Friedens hineingösse. Gemäss Johannesevangelium hat er das getan. «Frieden lasse ich euch zurück, meinen Frieden gebe ich euch.» Indem wir dieses Wort auf uns beziehen, können wir erleben, wie in die beklemmende Stickluft ein frischer Luftzug weht. Dann müsste doch die Befreiung wirksam werden, sodass unser Herz nicht erschrickt und sich nicht fürchtet.
Freilich fügt Jesus hinzu: «Nicht einen Frieden, wie die Welt gibt, gebe ich euch.» – Die Welt hat uns viel zu bieten und zu geben. Die Liebe zur Welt gehört zur christlichen Existenz. Aber alles, was uns die Welt gibt, bleibt irgendwie leer und leblos, wenn nicht anderswoher etwas hinzukommt. Gerade auch die Geschichten erfolgreicher Menschen bestätigen uns oft in erschütternder Weise, dass das, was die Welt hat und gibt, nicht ins wesentliche hineinreicht, und dass ein Leben, das sich ausschliesslich von der Welt nährt, unerfüllt und friedlos bleibt.
Das ist das Thema von Pfingsten. «Der Fürsprecher aber, der heilige Geist, den der Vater in meinem Namen senden wird, er wird euch alles lehren und euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe.» Den Frieden Jesu kann man nicht erzwingen. Selbst die Abschaffung der Armeen zieht nicht automatisch diesen Frieden nach sich. Der Friede in der Sprache Jesu – Schalom – heisst soviel wie Genugtuung. Im Durcheinander der Welt wird uns Genugtuung geleistet für Versäumnisse, Beleidigungen und Wunden. Wer diese Genugtuung wahrnimmt, lässt sich genug sein an dem, was er ist und was er hat. Leben wir als Jünger und Jüngerinnen Christi in der Atmosphäre der göttlichen Liebe, so haben wir den Frieden.
Wir haben ihn aber nicht, um ihn einzuschliessen und für uns zu behalten. In der Aussendungsrede spendet er den Jüngern Frieden: «Wenn ihr aber in das Haus eintretet, so grüsst es. Wenn das Haus es wert ist, kehre euer Friede dort ein, wenn das Haus es aber nicht wert ist, kehre euer Friede zu euch zurück.» (Matthäus 10,12f) Von den Kindern Gottes, soweit sie der Pfingstgeist erfasst hat, geht Friede aus. Ihnen ist es gestattet, den Frieden Christi in Herzen, Häuser und Institutionen zu tragen, damit allen Menschen Genugtuung geschehe und sie vergnügt seien.
Zürcher Bote, Pfingsten 2015

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert