Zwei Ehepaare mit je zwei Kindern entdeckten zahlreiche Gemeinsamkeiten und zogen deshalb in zwei Wohnungen auf der gleichen Etage. Da begann ein gemeinsames Leben mit offenen Türen, gegenseitigem Kinderhüten, Mahlzeiten und Diensten aller Art. Ich dachte, das könnte ein Modell sein, um den Rahmen der Kleinfamilie zu erweitern und sich das Leben gegenseitig zu erleichtern. Als ich ein Jahr später eine der beiden Frauen traf, erzählte sie mir, die andere Familie sei weggezogen. Ihre Familienpartnerschaft sei eine Weile gut gegangen, dann seien Spannungen aufgetreten, hätten eskaliert, bis sie sich kaum mehr sehen, geschweige denn noch miteinander kutschieren konnten. Mit Bedauern und Mitgefühl nahm ich die Neuigkeit zur Kenntnis.
Die schmerzliche Erfahrung der beiden Familien hat mich beschäftigt. Ich vermute, dass es für tragfähige Freundschaften nicht nur Nähe, sondern auch Distanz braucht. Freundschaften erfordern Persönlichkeiten. Persönlichkeiten bilden sich eigenständig, und Eigenständigkeit verlangt ein gewisses Mass an Einsamkeit. Auch Gotteserfahrungen sind oft mit Einsamkeit verknüpft. Gott begegnet lieber eigenständigen Menschen als Mixturen aus Zerstreuung und Trends. „Wenn du aber betest, geh in deine Kammer, schliess die Tür und bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist. Und dein Vater, der ins Verborgene sieht, wird es dir vergelten.“ (Matthäus 6,6) Nicht nur menschliche Beziehungen, auch die Gottesbeziehung erfordert Nähe und Distanz.
Die Geschichte kennt genügend Beispiele, wo eine der beiden Seiten vernachlässigt wurde. Im Namen Gottes tauchten Menschen in anonyme Massen ein, und im Namen Gottes zogen sich Menschen in die Einöde zurück. Der Königsweg ist keiner von beiden. Denn Nähe wird möglich durch Distanz, und Distanz wird erträglich durch Nähe. Das gilt sogar in der Astronomie. Computersimulationen haben gezeigt, dass sich die Erdachse bis in die Horizontale verschöbe, würde die Erde nicht vom Mond umkreist. Leben wäre dann unmöglich. Wir sind darauf angewiesen, dass der nahe Mond die Erde stabilisiert. Aber wehe, wenn er unserem Planeten zu nahe kommt! Die Zerstörung wäre total. Die Balance bei all den Rotationen im Weltraum gehört zu den Wundern der Schöpfung.
Nähe und Distanz erfordert auch das friedliche Verhältnis zwischen Völkern und Staaten. Reisen in ferne Länder, Begegnungen mit den dortigen Menschen und das Betrachten der Verhältnisse gehören zu den faszinierendsten Erlebnissen. Manchmal braucht es dazu nicht einmal einen Aufbruch, sondern genügen Bücher und Filme. Mitunter scheint es sogar, viele Touristen kehrten aus fernen Ländern zurück, ohne dort viel mitbekommen zu haben. Die Reiselust hat einen romantischen Zug. Man reist nicht zuletzt mit der Hoffnung, in der Ferne ein Stück Paradies anzutreffen. Das Entfernte scheint das Bessere und Schönere zu sein. Und die Sehnsucht auf ein Stück Paradies wird durchaus erfüllt, denn man reist ja wieder ab, bevor die Schatten des Alltags aufsteigen.
In dieser Sehnsucht nach dem Paradies steckt die Frage nach Gott. Vielen Menschen ist das nicht bewusst, und Atheisten sind manchmal sogar besonders romantisch veranlagt. Sie lieben es, ferne Länder zu idealisieren und Programme auszutüfteln, wie man die Welt in ein Paradies verwandeln könnte. Zu diesen Programmen scheint mir die Europäische Union und die Einheitswährung zu gehören. Vor allem die Randregionen Portugal, Griechenland, Spanien und Süditalien sind altbewährte Projektionsflächen für mitteleuropäische Romantiker. Die genannten Länder waren nie Euro-tauglich. Mit Tricks und Euphorie wurden die Fakten verdrängt. Keine Transferzahlungen – so lautete das Bekenntnis, obwohl der Zusammenschluss von Währungen schon immer Transferzahlungen nach sich zog. Beispiele sind die USA, die Schweiz, Italien und Deutschland. Aber Deutsche und Belgier, Holländer und Dänen wollten einfach näher an den Süden rücken und ein Stück sonniges, tiefblaues Paradies in den grauen Norden „integrieren“.
Romantik ist schön und kostbar, wo es um Kunst, Musik und menschliche Beziehungen geht. Für Wirtschaft und Politik ist sie ungeeignet. Wie die eingangs geschilderten Familien sind sich die Euro-Länder zu nahe gekommen und drohen nun die gegenseitige Zuneigung und den Respekt zu verlieren. Dass die Griechen über 30 % ihrer Steuern hinterziehen und sich schamlos verschulden, könnte den Deutschen egal sein – wenn sie nicht die gleiche Währung hätten. Aber nun löst das im Norden Argwohn aus. Umgekehrt scheinen in Griechenland die Antipathien gegenüber jenen, die strenge Auflagen fordern, zu wachsen. Die romantische Annäherung bewirkt das Gegenteil dessen, was man sich erhoffte. Aus der kitschigen Umarmung erwächst Zwietracht.
Es ist reizend, wenn sich Menschen nahe kommen. Auch Völker können sich einander annähern und Klischees überwinden. Bei aller berauschenden Nähe sollte man jedoch die Distanz beachten. Sie ist nötig, weil jeder Mensch ein Unikat ist. Und sie ist nötig zwischen Völkern, weil jedes Volk seine eigene kulturelle, religiöse, historische und mentalitätsmässige Prägung hat. Der Apostel Paulus liefert im ersten Korintherbrief (Kap. 12) das einschlägige Gleichnis dazu: Ein Leib besteht aus vielen Gliedern. Jedes Glied ist anders und hat seine eigene Aufgabe, gehört jedoch zum gleichen Leib. „Das Auge kann nicht zur Hand sagen: Ich brauche dich nicht, auch nicht der Kopf zu den Füssen: Ich brauche euch nicht. Vielmehr sind eben jene Glieder des Leibes, die als besonders schwach gelten, umso wichtiger.“ Jedes Glied soll sich selber bleiben und die anderen achten. Das Gleichnis bezieht sich nicht nur auf Individuen, sondern auch auf Gemeinwesen. Deshalb kann Deutschland nicht griechisch werden und Portugal nicht holländisch. Die Missachtung dieser elementaren Weisheit begann in der EU früh. Bereits 1963 schrieb der ETH-Literaturprofessor Karl Schmid: „Die Gefühle und Wünsche, die auf ein geeintes Europa gehen, sind an sich nicht gefährlich. Und die wirtschaftlichen Integrationsmassnahmen sind es auch nicht. Was aber unsere Skepsis hervorrufen muss, ist diese eigentümliche Verbrämung des Rationalen mit dem Irrationalen, diese magische Beleuchtung … bis zu dem Punkte, wo es als sittliche und fast religiöse Pflicht erscheint, es vorbehaltlos zu bejahen.“ (Schmid, Erlösung durch die Integration?)
Das biblische Bild vom Leib mit den Gliedern gipfelt darin, dass Christus das Haupt ist. Wäre Christus bei den Europamystikern und Einheitsbürokraten gegenwärtig, so hätten sie gemerkt, dass Europa ohne formalen Zwang und ohne Einheitswährung viel organischer zusammenwachsen würde. Nun haben sie sich verrannt, und die süsse Romantik ist faul geworden. Der kitschige Einheitsmythos droht Zerwürfnisse anstatt Harmonie hervorzubringen. Es wird anstrengend sein, den Rückweg zu zukunftstauglichen Verhältnissen zu finden. Zuversicht ist dennoch angezeigt. Gott hat die Menschen schon aus ganz anderen Verlegenheiten heraus geführt – wenn auch nicht immer schmerzfrei.
Zürcher Bote, Dank-, Buss- und Bettag 2011