Wenn aber das Vollkommene kommt, dann wird zunichte werden, was Stückwerk ist. (1. Korinther 13,10) – Paulus fasst in diesem Satz die Mitte der christlichen Verkündigung zusammen. Die Mitte ist Tod und Auferstehung, und daraus geht eine Unterscheidung im Zeitbezug hervor. Für die christliche Überlieferung ist das Zeitliche vergänglich und hat keinen Bestand. Das Ewige hingegen ist das Bleibende, Unbedingte und Endgültige. Das Zeitliche ist sichtbar und das Ewige unsichtbar. Die Unterscheidung zwischen Zeit und Ewigkeit war in der christlichen Tradition durch das alte Weltbild abgesichert. Wie die Welt vom Himmel überwölbt und von der Hölle gleichsam unterkellert war, so hing sie zwischen Schöpfung und Weltende in den Scharnieren der Ewigkeit. Dieses Weltbild gab viel zu denken und wurde keineswegs gedankenlos hingenommen.
Das Weltbild der Moderne löste die Unterscheidung zwischen Zeit und Ewigkeit auf. Die Ewigkeit entschwand, und als Realität galt ausschliesslich die erfahrbare und messbare Zeitachse. Die Erlösungs- und Pardiesvorstellungen blieben jedoch lebendig und mussten sich auf der gleichen Zeitachse ansiedeln. Sie wurden zu Projekten. Die Versuche, das Volkommene hin zu bekommen, haben indessen nicht zum Ziel geführt. Ihr Ergebnis war oft qualvoll und höllisch. Rot, braun, grün, schwarz – die Farbe mag sich ändern. Was bleibt, ist die Erfahrung, dass das Vollkommene auf der Zeitachse seinen Platz nicht findet. Es darf und soll für alles menschliche Handeln die Richtung anzeigen, so wie der Polarstern in der nächtlichen Wüste Norden anzeigt. Die Erfüllung bleibt jedoch einer andern Seinsweise vorbehalten. Streiflichter des Vollkommenen sind durchaus erfahrbar. Und es gibt hier und jetzt Unsichtbares, das prägt, etwa Liebe, Wahrhaftigkeit oder Vertrauen. Die gedankliche Annäherung an die Ewigkeit schenkt Trost und bewahrt vor Selbstüberschätzung. Und diese ist es ja, welche die grässlichsten Miseren der Geschichte hervorbringt.
Weltwoche 47/2019