Darin ist die Liebe Gottes unter uns erschienen, dass Gott seinen einzigen Sohn in die Welt gesandt hat, damit wir durch ihn leben. 1. Johannes 4,9
Die Weihnacht ist wieder da, und mit ihr die Botschaft von der Geburt im Stall und vom Kind in der Krippe. Für einen Augenblick leuchtet das helle Licht durch die Nacht. Einige Takte lang klingt die Freude durch die Etagen einer verunsicherten Welt: Euch ist heute der Heiland geboren. Wir freuen uns über dieses jährlich wiederkehrende Fest. Mehr als das müssen wir uns nicht vornehmen.
Das Weihnachtsfest vereinigt alles, was sich an Wünschen und Sehnsüchten in uns abgelagert hat. Nur so ist es zu erklären, daß unser Volk und unsere ganze Kultur es immer noch feiert. Alte Erinnerungen an die Feiern zur Sonnenwende erwachen: Es muss doch wieder Frühling werden. Der Mythos des Lichts, das geschwunden ist und nun wieder stärker wird, verkündet uns die Wiederkehr des Lebens. Wir wagen einen neuen Anfang. Und wenn wir ihn nicht wagen, blicken wir auf die junge Generation. Sie wird es weiterführen und vollenden. Zum Mythos des Lichts gesellt sich der Mythos von der Geburt. Es ist nicht alles verdorben, trotz der Finanzkrise und den Intrigen im Bundeshaus.
Allerdings: Solange wir am Lichtmythos, an der Geburtsromantik und am Weihnachtsschmuck hängen bleiben, haben wir vom Ernst und von der Freude der Weihnachtsgeschichte noch nichts vernommen. An der Weihnacht geht es nicht um die ewigen Gesetze der Geschichte und der Natur. Es geht um den lebendigen Gott, für dessen Wirken keine Gesetze gelten. Er tritt aus dem Verborgenen hervor, um sich den Menschen zu offenbaren: „Der Glanz des Herrn umleuchtete sie.“ Wo Menschen die Nähe des lebendigen Gottes wahrnehmen, da ist die Wirkung immer die gleiche: „Sie fürchteten sich sehr.“ Furcht verhindert aber das Aufkommen von Freude.
Wir gehen durchs Leben und durch die Welt, als hätten wir festen Boden unter den Füssen. Doch der feste Boden ist nur eine dünne Lavadecke. In Wirklichkeit gehen wir über einen brodelnden Vulkan, und wo die Decke bricht, da züngelt das Feuer, da schiesst die Flamme empor. Der feste Boden ist unser Wissen. Die Decke des Wissens ist dünn. Darunter brodelt der dampfende Krater der Ungewissheit. Wir glauben zu wissen. Besser wäre es, wenn wir wüssten, daß unser Wissen ohne Glauben gar nicht auskommt. Dann könnten uns die Eruptionen aus der Tiefe des Vulkans nicht mehr erschrecken. Wir würden darauf trauen, daß Gott auch das Unwägbare gewogen hat, und daß er das Unberechenbare ordnet.
Wer von diesem dampfenden Krater und von dem merkwürdigen Verhältnis zwischen Wissen und Glauben etwas ahnt, dem ist mit den Gedankenspielen vom Licht, das in der Nacht leuchtet, oder vom Kind, das die Zukunft verkörpert, nicht geholfen. Sie sind bestenfalls Hinweise auf die tragfähige und gültige Botschaft, die uns an der Weihnacht ausgerichtet wird. Alles Wissen in Ehren, in Ehren auch alle Bemühungen, aus der Welt das Beste zu machen. Aber diese Kulturgüter sind auswechselbar. Nicht auswechselbar ist der lebendige Gott. Seine Stimme ist es, die uns heute zuruft: Christ der Retter ist da! Der dampfende Krater ist nicht die letzte Energiequelle, die unser Schicksal bestimmt und uns im Leben herumschiebt. Dieses Geschiebe, auch wenn es undurchschaubar ist, folgt einem grossen Plan, und dieser Plan hat ein Ziel.
Wir hören die Geschichte vom Kind in der Krippe. Wir wundern uns nicht über die Geburt, ja nicht einmal über die jämmerlichen Umstände. Wir wundern uns darüber, daß diese nicht bloss unsere menschliche Existenz abbilden, sondern auch die göttliche. Der Sohn des lebendigen Gottes schlüpft ins Gewand von bedürftigen Menschen.
Der verstorbene König Hussein von Jordanien machte sich manchmal einen Spass daraus, als gewöhnlicher Bürger inkognito ein Einkaufszentrum aufzusuchen und zu sehen, wie lange es dauert, bis ihn jemand erkennt. Sein Sohn scheint dieses Spiel fortzusetzen. Der König als Bürger verkleidet. In den Kleidern eines Bürgers bleibt er trotzdem König. Gott ist nicht nur in die Kleidung, er ist auch in den Leib bedürftiger Menschen geschlüpft. Zwar blieb er Gott. Aber er empfand und litt als Mensch. Angefangen bei der Geburt. Kein Platz in der Herberge, deshalb kommt das Kind in den Futtertrog. Und als dieses Kind ein Mann war, sagte er von sich: „Der Menschensohn hat keinen Ort, wo er sein Haupt hinlegen kann.“ (Lukas 9,58) Und schliesslich weiss die Welt nichts anderes mit ihm anzufangen, als ihn an den Galgen zu hängen.
Aber: Die Erzählung von diesem Kinde, und überhaupt das Evangelium nennt Jesus den eingeborenen Sohn Gottes; er sei derjenige, der der Welt das Heil bringt und damit den Frieden mit Gott. Wozu braucht sie diesen Frieden mit Gott? Trifft es überhaupt zu, daß sie mit Gott im Unfrieden lebt?
Zur Zeit Jesu traf es im doppelten Sinne zu: Die Welt lebte im Unfrieden mit Gott, weil sie andere Götter vorzog, griechische, römische, orientalische. Sauglatte Kerle waren das, weil sie den Menschen so ähnlich waren. Man wusste, was man von ihnen erwarten konnte und was nicht. Damit war aber auch dem Glauben an sie eine Grenze gesetzt. Von Glauben im umfassenden Sinne konnte keine Rede sein. Man erwies ihnen die Ehre, ohne ihnen richtig zu trauen. Gerade weil die Götter so konkret waren, waren sie geistig so dürftig. Das war die religiöse Mode der Zeit.
Sogar Juden machten aus ihrem Gott eine kontrollierbare Grösse. Unter dem Motto „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“, erfand man Kriterien, mit denen man Gottes Nähe nachweisen konnte. Als religiöse Messlatte ist den Menschen noch nichts besseres eingefallen als die Moral. Es gab eine Moralbürokratie, so wie es heute Ethikkommissionen gibt oder Journalisten, deren Metier die Empörung ist. Richtig daran ist, daß Gott sich für unser Verhalten interessiert. Ob er aufgrund von Lippenbekenntnissen Eintrittskarten für sein Reich ausstellt, ist eine andere Frage. Ein solches Verhaltensmuster Gottes wäre zwar handlich. Aber es wäre trotz der religiösen Rauchentwicklung bloss innerweltlich und daher trostlos.
Gottes umwerfende Offenbarung ist nun eben die, daß er noch viel menschlicher ist, als wir je sein können. Oberflächliche Stilfragen und Imagepflege lässt er sausen zugunsten der Wahrheit. Die Wahrheit ist, daß wir mit einem schlechten Stil veranlagt sind. Von Geburt her. Dieser schlechte Stil wird nun von Gott imitiert. Etwas Stilloseres als eine Geburt im Stall kann man sich nicht vorstellen. Anstatt daß wir ihn imitieren und Gott spielen, imitiert er uns und spielt Mensch. Dann wird sein Spiel Ernst. Verachtung, Verhaftung, Kreuzigung. Gott solidarisiert sich bis zum bitteren Ende.
Dieser Weg fängt in der Krippe an. Aller Anfang ist schwer, heisst es sonst. Hier heisst es: Aller Anfang ist Liebe. Gottes Liebe. Ob uns diese Einsicht an der Weihnacht oder an der Fasnacht zuteil wird, ob heute oder in zwanzig Jahren, das ist zweitrangig. Erstrangig ist seine Zusage, daß er mit uns angefangen hat, mit uns weitermacht, und vollendet.
Zürcher Bote, Dezember 2008