Rätsel und Offenlegung – Weihnacht 2009

Mit der Geburt Jesu Christi aber verhielt es sich so: Maria, seine Mutter, war mit Josef verlobt. Noch bevor sie zusammengekommen waren, zeigte es sich, dass sie schwanger war vom heiligen Geist. Matthäus 1,18

Die Weihnacht ist mir zugleich Rätsel und Offenbarung. Es gibt fromme Leute, die gegenüber der Weihnacht Widerstände haben, oder sie sogar verachten, weil sie finden, es sei bloss Kitsch und Kommerz. Die Weihnacht sei nur noch eine Verlegenheitsfeier für Kleingläubige. Damit bin ich nicht einverstanden. Träfe das zu, so wäre nicht einzusehen, weshalb die Kleingläubigen und Ungläubigen trotz allem noch an der Weihnacht festhalten. Die könnten doch ebenso gut darauf verzichten. Daher wage ich die Behauptung, die Beliebtheit der Weihnacht habe einen guten und gesunden Kern, nämlich den, dass die Leute merken: Hier liegt so etwas wie der archimedische Punkt christlichen Daseins. Der Vergleich mit dem Archimedischen Punkt stammt aus der Mathematik. Mathematik ist ein Fachgebiet für Leute, die abstrakte Zusammenhänge begreifen. Und genau so sieht für viele die Theologie aus, und womöglich auch die Kirche: Wie eine Institution oder ein Institut, wo komplizierte Abhandlungen ersonnen und gestapelt werden. Wo ein paar Fachleute über Sätzen brüten, die sonst niemand versteht.
Da ist schon was dran. Das Christentum ist eine Schriftreligion. Ihre Grundlage ist die Bibel. Die Bibel ist alt, folglich müssen die Texte ausgelegt werden. Auslegung erfordert Denken, und das gibt dem christlichen Glauben eine intellektuelle Schlagseite. Besonders ausgeprägt war und ist das bei den Protestanten. Zeitweise wurde der Glaube geradezu gleichgesetzt mit Bildung, und das hiess in der Konsequenz, dass der Glaube von der Bildung verdrängt wurde. Die deutschsprachigen Geistesgrössen des 18. und 19. Jahrhunderts waren weitgehend Protestanten, zum Teil sogar Theologen. Schiller, Goethe, Hegel und Herder, Wieland, Jeremias Gotthelf, Gottfried Keller und Conrad Ferdinand Meyer. Vielleicht sind manche Protestanten ein wenig stolz darauf. Aber die Sache hat einen Haken: Sobald sich diese Dichter und Denker über Gott oder über Christus ausliessen, dann waren es meistens blosse Denkkonstruktionen. Ihr Gott war weder Hirte wie im Psalm 23, noch war ihr Jesus die Offenbarung Gottes. Alles war nur sprachlicher und kultureller Stoff, auf dem der menschliche Intellekt herumturnte.
Die Weihnacht führt uns auf das Elementare zurück. Der Ausgangspunkt des Christentums ist nicht ein Text, sondern ein Mensch. Und der Anfang jedes Menschen, auch dieses Menschen, ist eine Geburt, beziehungsweise eine Zeugung. Sogar im Johannesevangelium, das keine Weihnachtsgeschichte erzählt, finden wir den Satz. „Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns“.
Wir sind also auf der richtigen Spur, wenn wir auf der Suche nach der Wahrheit einfach mal Weihnacht feiern. Das Phänomen einer Geburt, also die Tatsache, dass ein neuer Mensch entsteht, ist ebenso unbegreiflich wie faszinierend. Und wenn wir uns vorstellen, was ein Kind in wenigen Jahren alles lernt, wie es seine Persönlichkeit ausbildet, wie es sich verändert, wie es auf seine Umgebung wirkt, so würde ich behaupten, da geschehen Wunder gleich reihenweise. Die Geburt allein wäre schon ein hinreichender Inhalt für einen alljährlichen Feiertag. Aber die Weihnacht will uns mehr sagen. Es geht darum, dass sich der Schöpfer im Menschen Jesus offenbart. Biologie war hier auch im Spiel, denn Jesus war ein Mensch von Fleisch und Blut. Aber es geht um mehr als Biologie. Deshalb erzählt das Evangelium, Maria sie schwanger geworden vom Heiligen Geist. Können wir mit dieser Aussage etwas anfangen?
Wahrscheinlich nur dann, wenn wir nicht bei der Biologie hängen bleiben. Wie das im Detail geschah, diese sogenannte Jungfrauengeburt, darüber zerbreche ich mir den Kopf nicht. In der Regel schlägt ja ein Kind entweder dem Vater oder der Mutter nach. Zur Zeit Jesu, und noch bis ins 19. Jahrhundert, meinte man, das Erbgut, also die Form, komme ausschliesslich vom Vater. Von der Mutter komme nur die Materie. Mater, also Mutter, ist sogar von Materie abgeleitet. Die Kinder schlugen also nach allgemeiner Auffassung dem Vater nach. Eigentlich hätte man längst merken müssen, dass es Kinder gibt, die nicht dem Vater, sondern der Mutter nachschlagen und gleichen. Aber Dogmen und Glaubenssätze machen manchmal blind.
Wenn Jesus, wie das Evangelium erzählt, nicht von Josef, sondern vom Heiligen Geist, gezeugt war, so bedeutet das, dass er nicht dem Josef nachschlug, sondern Gott. Das ist das Wichtigste an der Jungfrauengeburt. Wenn wir Jesus hören, hören wir Gott. Und wenn wir darauf achten, wie er handelt und liebt, wie er redet und heilt, so beobachten wir Gott. Jesus schlug Gott nach.
Um zu verstehen, was das heisst, muss man sich ein paar Ereignisse vergegenwärtigen, wie sie das Evangelium erzählt. Jesus heilte zahlreiche Menschen. Aussätzige, Fieberkranke, psychisch Kranke, Gelähmte, Blinde, Stumme, Ausgeflippte und Abgestürzte. Meistens handelte es sich um Leute, die keine Heilungschancen hatten, oder an deren Heilung niemand glaubte. Indem Jesus solche Menschen heilt, wird deutlich, dass die Dinge, die verkehrt oder versehrt oder zerstört sind, von Gott wieder hergestellt werden – denn Jesus schlägt ja Gott nach.
Aber Jesus heilt und handelt nicht nur, er redet auch. Wenn er redet, schlägt er ebenfalls Gott nach. Der erste Satz von Jesus im Matthäusevangelium, lautet: „Lass es jetzt zu!“ Das sagte er zu Johannes dem Täufer, als der zögerte, Jesus zu taufen. Johannes meinte es müsste umgekehrt geschehen, nämlich er müsse von Jesus getauft werden. Johannes fühlte sich nicht kompetent, Jesus zu taufen. So geht es uns manchmal auch: Wir fühlen uns nicht kompetent, nicht qualifiziert, nicht gut genug, zu Jesus und zu Gott zu gehören. Deshalb haben wir diesen Aufruf genau so nötig: „Lass es jetzt zu!“ In diesem Satz schlägt Jesus ganz besonders Gott nach. Denn an Gott glauben heisst, Ereignisse, Dienste und Worte zulassen, die der Mensch von Gott nicht erwartet. Es heisst, Gottes Liebe zulassen, und sie wirken lassen. Wirkt sie in uns, so wirkt sie auch über uns hinaus. Und sie wirkt durch uns.
Das ist der Aufruf und die Einladung, die zu Weihnachten an uns alle ergeht: Lasst es zu, dass sich in Jesus Christus die unfassbare Vielfalt Gottes offenbart. Lasst es zu, dass Gott auch die Seiten und Schattenseiten von euch kennt, die ihr gerne abwendet und versteckt. Lasst es zu, nicht nur dass er die Schattenseiten kennt, sondern auch dass er sie heilt. Lasst es zu, dass Christus unser Bruder ist und unsere beste Verbindung zu Gott. Wenn uns die Weihnacht ein Rätsel ist und ein Rätsel bleibt, so ist das nicht so schlimm. Es kommt drauf an, dass wir von ihm Trost für unsere Seelen und Orientierung für unsere Herzen empfangen. Seine Liebe wird in unserem Alltag wiederstrahlen. Weit über die Weihnacht hinaus und ins neue Jahr hinein.
Zürcher Bote, Dezember 2009

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