Der Reiz der Horde

Es wurde mir über euch berichtet, dass jeder von euch Partei ergreift: Ich gehöre zu Paulus – ich zu Apollos – ich zu Kefas – ich zu Christus. Ist etwa Christus zerteilt? (1. Kor. 1,11-13) Der Homo sapiens war über Jahrtausende darauf angelegt, in überschaubaren Gruppen mit einem Anführer zu leben. Entsprechende Reflexe steuern bis heute unser Verhalten. Dazu gehört die Neigung, die Dinge nicht nach sachlichen Gesichtspunkten, sondern im Gleichklang mit der Horde zu beurteilen. Es konnte sein, dass einer zum Beispiel Bärlauch widerlich fand. Aber weil dieser in den Frühlingstagen von der Horde genossen wird, schmeckte er angeblich auch ihm. Mit solchen Reflexen musste sich der Apostel Paulus herumschlagen. In der Gemeinde in Korinth waren Streitigkeiten ausgebrochen. Das Kriterium waren nicht verschiedene Facetten des Christusglaubens, sondern die Anhänglichkeit an eine Horde und ihren Leader. Dass manche zu Christus, andere zu Paulus oder Kefas gehören wollten, zeigt die Verwirrung. Christus muss ja für alle wegweisend sein. Aber innerhalb dieses Bekenntnisses haben unterschiedliche Akzente Platz.
Um der Wahrheit näherzukommen, sind offene Gespräche das richtige Mittel. Das galt für die Christen in Korinth, und es gilt gleichermassen für jede Gemeinschaft, die auf irgend einem Gebiet die Klärung und den Konsens sucht. Zu fast jedem Gespräch gehören auch unangenehme Äusserungen. Um ihnen standzuhalten, braucht es Disziplin und Grossherzigkeit. Wo sie fehlen, suchen die Menschen Anschluss bei Gleichgesinnten, um sich sicher zu fühlen. So verstummt das sachbezogene Gespräch und macht der Abgrenzung zwischen den Horden Platz. Die Lage in Korinth kommt mir bekannt vor. Hordenbildung ist auch für viele heutige Menschen bequemer als das behutsame Gespräch mit offenem Visier.
Weltwoche 19/2021

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