Die Katastrophe

Noah war ein gerechter Mann und vollkommenen unter seinen Zeitgenossen. (Genesis 6,9) Finden Sie den Alltag fade und wünschen Sie sich zuweilen eine Umwälzung? Dann sind auch Sie empfänglich für Katastrophenmeldungen. «Katastrephein» heisst umwenden und umdrehen. Die grösste Katastrophe in der Bibel ist die Sintflut, Genesis 6 bis 9. Als Gott die Bosheit der Menschen sah, wollte er sie ausrotten. Diese Einleitung nimmt sieben Zeilen ein. Dann wechselt die Tonart, und der Text schildert eine gigantische Rettungsaktion, die sich über 150 Zeilen erstreckt, und die der gleiche Gott ins Werk setzt. Noah und seine Frau, seine drei Söhne und Schwiegertöchter bauten einen riesigen Holzkasten, in welchem sie mitsamt der Tierwelt die Sintflut überlebten. Zuerst hatte es Gott gereut, dass er die Menschen gemacht hatte. Nachher reute es ihn noch mehr, dass er sie ausrotten wollte. Noah hatte Gnade gefunden vor dem Herrn. Dass alle acht die Rettung moralisch verdient hätten, wird nicht gesagt.
Nicht einmal Noah selbst war perfekt. Er war gerecht und vollkommen «unter seinen Zeitgenossen». Das ist eine Einschränkung. «Gerecht» ist ohnehin kein moralischer Begriff. Es gibt Menschen, die zu ihrer Zeit Hervorragendes leisten. Oft merkt das erst die Nachwelt. Und die Nach-Nachwelt findet dann wieder Haare in der Suppe. Deshalb ist bei der Geschichtsdeutung Vorsicht und Demut angebracht. Die Wohltäter und die Schurken von gestern würden vielleicht heute nicht als solche rüberkommen. Und die Halunken und Helden von heute kommen der Nachwelt anders rüber. Den Bundesrat würde ich nicht endgültig verunglimpfen. Noch viel weniger würde ich dem Gesundheitsminister huldigen und höfelen, wie es die aufgekratzten SRF-Damen gerne tun. Auch ihr Held übersteht die Katastrophe nur aus Gnade.
Weltwoche 10/2021

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