Wehe euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler! Aussen haltet ihr Becher und Schüssel rein, inwendig aber sind sie voller Raub und Gier. (Matthäus 23,25) – Zu diesem Bibelvers könnte ich etwas über die Pharisäer schreiben. Damit würde ich mir dem eigentlichen Thema ausweichen und selber zum Pharisäer werden. Deshalb geh ich gleich davon aus, dass ich ein Pharisäer bin und beziehe die Aussage Jesu auf mich: Es gibt bei mir einen Unterschied zwischen innen und aussen. Ich verdecke nach aussen allerlei Gefühle und Gedanken, die mich bewegen. Zum Beispiel bin ich zuweilen verärgert über Personen oder Ereignisse. Es kommt vor, dass ich jemanden blöd finde. Doch lass ich es mir nicht anmerken. Mit zunehmendem Alter werde ich über manche Entwicklungen ungehalten. Daraus ergeben sich unfreundliche Gedanken über deren Urheber. In meinem Innern brodelt es manchmal. Paulus präzisiert im Galaterbrief: Feindschaft, Streit, Eifersucht, Zorn, Eigennutz, Zwietracht, Parteiung, Missgunst, Trunkenheit, Übermut (5,20f). Egal, was auf mich zutrifft; wahr ist, dass sich mein Inneres nicht immer deckt mit dem, was ich nach aussen darstelle.
Vermutlich kennen das auch andere Menschen. Unschöne Gefühle gehören zu den menschlichen Grundtönen. Begrüssungsrituale sind dazu da, sie zu zähmen, etwa der Handschlag als Zusage, dass ich keine Waffe zücke. Das wirkt. Feindseligkeiten werden durch Begegnungen und Blickkontakte gezähmt. Alle Gefühle ungefiltert nach aussen zu stülpen, wäre unsittlich. Ein wenig Schauspielerei muss wohl sein. Aber sobald meine Aussenwirkung mich beherrscht, kippen die guten Sitten in Heuchelei und Lüge. Das verhärtet die Fronten und die Herzen. Meine inneren Minenfelder sollte ich anschauen und bedenken. Und Gott bitten, dass auch er sie anschaut – und entschärft.
Weltwoche 41/2021