Die Priester haben nicht gefragt: Wo ist der HERR? Und die Hüter der Weisung haben mich nicht gekannt. (Jeremia 2,8) – Im Alten Testament sind die Priester zum Gottesdienst geweiht und haben eine Leitungsaufgabe in der Gemeinde. Weil sie Gott vertreten, ist der Amtsmissbrauch ihre grösste Versuchung. Kein Wunder, fallen in der Bibel schon früh kritische Blicke auf sie. Beim Tanz ums Goldene Kalb war der Priester Aaron der wichtigste Regisseur. Der Prophet Jeremia wirft den Priestern vor, dass sie nicht nach Gott fragen. Im berühmten Gleichnis vom barmherzigen Samariter stiefelt der Priester achtlos am Verletzten vorüber (Lukas 10). Als Jesus verhaftet und von der religiösen Führung verhört wurde, redete sie dem Volk ein, die Freilassung eines Mörders, nicht aber die Freilassung Jesu zu verlangen.
Auf die religiösen Führer und Wortführer ist kein Verlass. Drei Beispiele: Als Grossbritannien gegenüber Nazi-Deutschland buckelte, plädierte der anglikanische Bischof Arthur Headlam zugunsten von Hitler und behauptete, in Deutschland gebe es keine religiöse Verfolgung. Als Daniel Ortega in Nicaragua erstmals an die Macht kam, wurde er in der kirchlichen Agenda «Brot für alle/Fastenopfer» wie ein Erlöser verherrlicht. Über 40 Jahre später ist Ortega immer noch an der Macht – ein korrupter Unterdrücker, Mörder und mutmasslicher Kinderschänder. Als Papst Franziskus in seiner Enzyklika «Laudato si» manche Probleme dieser Welt skizzierte, setzte er für deren Lösung durchwegs auf den Staat. Als Lateinamerikaner müsste er eigentlich wissen, dass der Staat häufiger das Problem als die Lösung ist. Gewiss können Kirchenleiter auch treffsicher urteilen. Das geschieht jedoch nicht kraft ihres Amtes, sondern kraft ihres Denkens und Glauben. Deshalb ist es das Beste, Sie denken und glauben gleich selber.
Weltwoche 34/2021