Rücksicht

Und Jesus sprach: Ich sage euch, diese arme Witwe hat mehr eingeworfen als alle anderen. Denn die haben alle aus ihrem Überfluss etwas zu den Gaben gelegt, sie aber hat aus ihrem Mangel alles, was sie zum Leben hatte, hergegeben. (Lukas 21,3-4) – Die Menschen sind ungleich und leben in verschiedensten wirtschaftlichen Verhältnissen. Die kleine Spende bedeutete für die mittellose Witwe eine spürbare Entbehrung. Auch zwischen Gemeinwesen, Städten und Ländern bestehen solche Unterschiede. Schaltet man sie gleich, ergeben sich Verzerrungen und Diskriminierungen. Italien bestand vor seiner Vereinigung aus Königtümern, Herzogtümern und Republiken. Sie waren trotz gemeinsamer Sprache verschieden und hatten eigene Währungen wie Scudo, Piastra oder Fiorino. Mit der Vereinigung 1861 und der Einheitswährung Lira wurde der wirtschaftlich schwache Süden mit den starken Nordregionen gleichgeschaltet. Unterschiedliche Wirtschaftsräume brauchen jedoch Wechselkurse, die die Unterschiede wie Ventile ausgleichen. Der Lebensstandard in Sizilien, Kampanien und Kalabrien sank. Als Kompensation bot sich das organisierte Verbrechen an. Nicht zufällig erlebte die Mafia in den 1860er Jahren einen markanten Aufschwung.
Heute spielt sich der gleiche Mechanismus im europäischen Umfang ab. Die Einheitswährung Euro ist für die starken Wirtschaftsräume zu tief und für die schwachen zu hoch bewertet. Dutzende Millionen von Menschen in wirtschaftlich schwachen Regionen könnten in die Fänge von kriminellen Netzwerken schlittern. Diese sind bereits erstarkt. Ihre Gönner sitzen in der EZB-Zentrale in Frankfurt. Eine Gesundung wäre möglich durch massgeschneiderte Währungen. Eine geringere Wirtschaftskraft ist keine Schande, so wenig wie eine geringe Spende. Sofern die Liebe und die Rücksicht mitwirken.
Weltwoche 33/2021

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