Jeder aber bleibe in der Berufung, in die er berufen worden ist. (1. Korinther 7,20) – Paulus verdiente seinen Lebensunterhalt als Zeltmacher. Jesus hatte als Zimmermann gearbeitet. Bekannt geworden ist Jesus aber als Offenbarung Gottes und Paulus als Apostel. Dazu waren sie berufen. Jesus war der Sonderfall, und Paulus war zeitweise sowohl Apostel als auch Zeltmacher. Die Berufung wurde dann im Mittelalter dahin umgedeutet, dass jemand für den totalen Gottesdienst – das hiess fürs Klosterleben – berufen sei. Dadurch spaltete sich die Gesellschaft in berufene und unberufene Menschen auf. Luther hat diesen Missstand als Mönch selbst erlebt. Als er Gottes Ruf vernahm, verliess er das Kloster. Er merkte, dass die Berufung auch im gewöhnlichen Leben und in jeder Arbeit ihren Platz haben kann. Mit der Zeit wurde der Broterwerb allgemein als Beruf bezeichnet.
Damit hatte Luther ein altes Missverständnis weggeräumt, aber den Boden für ein neues bereitet. Die Berufung des Menschen erschöpft sich doch nicht in seinem Beruf! Sie umfasst auch vieles, was heute herablassend «Hobby» genannt wird. Manche sind sogar stärker zum Hobby als zum Beruf berufen – und bringen dort Grossartiges zustande. Schon deshalb sollte man den «Beruf» weiter fassen. Merkwürdig ist überdies, dass die Kindererziehung in der Familie mitsamt der Haushaltsführung nicht mehr als Beruf gilt, obwohl genau das eine Berufung sein kann. Und noch aus einem anderen Grund ist der Berufsbegriff zu erweitern: Das Mönchtum wusste immerhin, dass die Berufung von Gott kommt. Sie ist der Ruf in die Nachfolge Jesu Christi. Diesem Ruf kann ich auch als Maurer oder als Kassiererin nachkommen. Und er verschafft mir mehr als ein neues Hobby. Er gibt mir Rückenwind und erfüllt mich mit Hoffnung und Gelassenheit.
Weltwoche 24/2021