Mit bitteren Kräutern hat er mich gesättigt, mit Wermut hat er meinen Durst gestillt. (Klagelieder 3,15) – Die nicht sonderlich bekannten Klagelieder beweinen die Zerstörung Jerusalems und des Tempels. Im dritten der fünf durchgestalteten Gedichte denkt einer angesichts des Debakels über den Zorn Gottes nach: Gott selber habe ihm bitteren Wermut zu trinken gegeben. Der bittere Geschmack mancher Pflanzen ist eine Abwehr gegen Fressfeinde. Hier ist Artemisia absinthus gemeint. Daraus wurden in der Neuzeit mit Anis und Fenchel Liköre hergestellt, die wegen des vermeintlich gefährlichen Giftes Thujon verboten wurden. Das erwies sich als Irrtum. Wahr ist indessen, dass Wermut und andere Bitterstoffe massvoll genossen werden sollten.
Viele Bitterstoffe sind Heilmittel. Schon Hippokrates und Hildegard von Bingen empfahlen Bitterkräuter gegen bestimmte innere Leiden. Heute beruht ein Drittel aller pflanzlichen Heilmittel auf bitteren Zutaten. In den kultivierten Gemüsesorten wurde der Bitterstoff möglichst weggezüchtet, während Wildpflanzen und alte Sorten noch hohe Gehalte aufweisen. Der moderne Mensch mag es lieber süss und gerne mit Geschmacksverstärker. Bittere Substanzen versucht er sich ebenso lustorientiert vom Leib zu halten wie bittere Erfahrungen. Aber sie gehören zum Leben und bringen uns weiter. So war es im Alten Israel, und so war es in der Schweiz. Gott selber verabreicht Wermut, und manche Bitterkräuter sind heilsam. Das Austilgen aller Bitternis könnte daher noch bitterer enden. Schon jetzt sind ärmere Menschen wegen der übertriebenen Corona-Massnahmen tiefer in die Armut gerutscht. Und schon jetzt bahnen sich Verwerfungen an als Folge der Schuldenberge, welche die bittere Rezession abwenden sollten. Es wäre klug und gottgewollt, unverbittert darüber nachzudenken.
Weltwoche 42/2021