Der Wildbeuter

Und die Knaben wuchsen heran. Esau wurde ein Mann, der sich auf die Jagd verstand, ein Mann des freien Feldes. Jakob aber war ein gesitteter Mann, der bei den Zelten blieb. (Genesis 25,27) – Die Zwillingssöhne von Isaak und Rebekka waren verschieden. Der rötliche und behaarte Esau war ein Jäger und Sammler. Jakob hingegen war ein Hirte und Landwirt. Die Schilderung lässt sich als ein Kapitel der Menschheitsgeschichte deuten: Der Homo sapiens lebte über Jahrtausende als Wildbeuter, ehe er vor rund 11.500 Jahren mit der Landwirtschaft begann. Der Wandel erfolgte in verschiedenen Regionen parallel. Nach Weizen und Ziegen wurden Erbsen und Linsen domestiziert, und je nach Klima kamen weitere Nutzpflanzen und -tiere hinzu. Allerdings eigneten sich nicht alle herkömmlichen Nahrungsmittel zur Kultivierung, sodass der Speisezettel schrumpfte. Auch gingen die meisten Naturkenntnisse verloren. In den letzten zweitausend Jahren kamen keine nennenswerten neuen Lebensmittel hinzu, ausser dem Transfer von Gewächsen in andere Kontinente. Die Wildbeuter lebten also gesünder, so der Historiker Yuval Harari, und hatten nichts zu verteidigen. Der Sicherungsbedarf entstand erst durch den Land- und Güterbesitz.
Esau kam hungrig nach Hause. Jakob hatte gerade gekocht und bot ihm das Linsengericht an – gegen das Recht des Erstgeborenen. Esau willigte ein und tauschte sein langfristiges Recht gegen eine kurzfristige Bedürfnisbefriedigung. So wurden die Wildbeuter allmählich von den Landwirten verdrängt. Die Landwirte und Siedler arbeiteten für eine sichere und schlechtere Ernährung immer mehr. Nach wie vor steigern wir die Sicherheit und das Arbeitspensum und verlieren an Freiheit und Lebensqualität. Doch in unserem Unterbewusstsein lebt Esau weiter, und manchmal sehnen wir uns nach seiner naturnahen Lebensform.
Weltwoche 28/2021

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