Jesus aber rief die Jünger zu sich und sprach: Ihr wisst, dass die Herrscher ihre Völker unterdrücken und die Grossen ihre Macht gegen sie einsetzen. Unter euch soll es nicht so sein. (Matthäus 20,25f) – Jesus zeichnet hier ein Bild der Politik, das heute unter dem Namen Machiavellismus verpönt ist. Der florentinische Politiker Machiavelli beschrieb um 1500 die Handlungsmaximen eines politisch erfolgreichen Fürsten. Sie lesen sich wie das Handbuch eines Despoten. Eben so soll es in der christlichen Gemeinde nicht zugehen. Umgekehrt fordert Jesus aber nicht, dass es in der Politik so zugehen müsse, wie es in der Kirche zugehen soll. Er misst die Politik nicht an falschen Massstäben.
Nach den Weltkriegen ist ein Anti-Machiavellismus beliebt geworden, der sich auf hehre Ideale beruft. Er begründet militärische Eingriffe nicht mit der Staatsräson, sondern moralisch, allenfalls als Strafexpeditionen. Der neoliberale Ökonom Wilhelm Röpke wies allerdings schon in den fünfziger Jahren darauf hin, dass hochtrabende Prinzipien wie etwa das «Selbstbestimmungsrecht der Nationen» das empfindliche Gleichgewicht der Staaten zerstören und Schlechtes durch noch Schlimmeres ersetzen können. Vermutlich braucht ein verantwortungsvoller Herrscher eben doch eine gesundes Mass Machiavellismus als Gegengift gegen naive Illusionen. Solche führen nämlich leicht dazu, dass man die Ziele verfehlt, die Bemühungen abbricht und damit einer Skrupellosigkeit den Weg bereitet, die dem Florentiner ein Graus wäre. Ein grosser Staatsmann ist weder ein menschenfeindlicher Despot noch ein moralischer Superman. Er tut, so Montesquieu, anderen Ländern im Frieden Gutes und im Krieg möglichst wenig Schlechtes. Der Geist Christi kann die Dunkelkammern der Politik aufhellen. Aber nur deshalb, weil er sie nicht beherrschen will.
Weltwoche 37/2021