Nicht nur schwarz und weiss

Das Markusevangelium erzählt schon im ersten Kapitel Wunderheilungen. Im zweiten Kapitel bringen Träger einen Gelähmten auf einer Bahre zu Jesus in ein Haus, kommen wegen der vielen Leute nicht durch, reissen das Dach auf und lassen ihn an Seilen herab. Und als Jesus ihren Glauben sieht, sagt er zu dem Gelähmten: Kind, dir sind die Sünden vergeben! (Markus 2,5) – Das tönt für mich taktlos. Der Gelähmte ist doch mit seiner Behinderung schon genug belastet. Damals vermuteten die Leute einen engen Zusammenhang zwischen Krankheit und Sünde. Zugespitzt gesagt: Wer krank oder behindert war, hatte gesündigt, war also selber schuld. Spricht nun Jesus dem Gelähmten zuerst die Sündenvergebung zu, so leugnet er den Zusammenhang zwischen dem Tun und dem Ergehen. Das erscheint heute als selbstverständlich. Damals entrüsteten sich die strenggläubigen Schriftgelehrten über den spontanen Zuspruch. Er brachte ihr System ins Wanken. In ihrem System waren schwarz und weiss klar zugeordnet: Sünder, egal ob krank, gesetzlos, ungläubig oder gemeindefern, waren als «schwarz» zu meiden.
Heute würde der Gelähmte als Benachteiligter oder als Opfer betrachtet und genösse Sympathie und Wohlwollen. Gut so. Weniger gut ist, dass es nunmehr Menschen und Gruppen gibt, die auf das Wohlwollen schielen und sich zu diesem Zweck phantasievoll als Opfer inszenieren. Das kann Trost, vielleicht auch Privilegien oder sogar Geld einbringen. Kein Wunder, tauchen stets neue «Opfer» auf. Schaut man genauer hin, lassen sich Opfer und Täter, gut und böse, oft nicht so scharf zuordnen. Und hier gewinnt der Zuspruch von Jesus eine überraschende Aktualität. Auch wer sich als Opfer oder Retterin zu den «Weissen» zählt, braucht Vergebung. Da ist kein Gerechter, auch nicht einer. (Römer 3,10) Modern gesagt: Me Too.
Weltwoche 50/2021

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