Durch Leiden zur Vollendung

Er hat in den Tagen seines irdischen Lebens sein Bitten und Flehen mit lautem Schreien und unter Tränen vor den gebracht, der ihn vom Tod erretten konnte, und er ist erhört worden, weil er es aus Ehrfurcht vor Gott tat. Obwohl er Sohn war, lernte er an dem, was er litt, den Gehorsam. Dadurch wurde er zur Vollendung gebracht und ist zum Urheber ewigen Heils geworden für alle, die ihm gehorsam sind. (Hebräer 5,7-9)

Bitten, Flehen, Schreien und Tränen sind die Merkmale bitterer Leidenserfahrungen. Man könnte an Erdbebenkatastrophen oder an Kriegshandlungen denken. Schreien und Tränen rufen zudem nach Hilfe. Hilfsaktionen laufen ja bei entsprechenden Meldungen unverzüglich an – ein Ausdruck christlicher Gesinnung. Manchmal nehmen die Sammlungen globale Ausmasse an, sodass mehr zusammenkommt, als man seriös verwalten und umsetzen kann. Deshalb gab es auch schon Skandale um Gross-Sammlungen. Das ändert jedoch nichts daran, dass die Nothilfe richtig ist.
Es gibt freilich auch Schreie, Tränen und Leiden, um die sich niemand kümmert und die man nicht beheben kann. Ich denke an die chronischen Nöte von Millionen von Menschen in Afrika, durch Dürre, Feindseligkeiten oder eine miserable Politik. Auch da gibt’s langfristige Hilfsprogramme, aber oft ohne nachhaltige Wirkung. Deshalb versuchen die Leute auszuwandern. Auch Menschen in Europa, in der Schweiz, in der Nähe, denen vordergründig nichts fehlt, haben zu leiden, weil sie einsam, beruflich gestrandet oder von Depressionen oder chronischen Schmerzen geplagt sind. Auch für sie gibt’s Hilfestellungen. Aber nicht alles lässt sich beheben. Manchen Zeitgenossen geht es wie unseren Vorfahren. Die litten fast dauernd unter Schmerzen, Verlusten und mangelnder Lebensqualität. Trotz aller Gewöhnung bedeutete das Basisleiden eine harte Herausforderung. Unsere Kultur hat seit 200 Jahren der Linderung von Leiden die grössten Anstrengungen und am meisten Geld gewidmet und dabei ungeheuer viel erreicht. Doch lassen sich die Leidenserfahrungen, wie es scheint, aus dem menschlichen Dasein nicht ausmerzen.
Es gibt simple Methoden, sie loszuwerden. Leide ich Schmerzen oder fühle ich mich unbehaglich, so kann ich mit betäuben. Es ist klar, dass damit die Probleme nicht gelöst, sondern in die Zukunft verschoben werden. Suchtkranke betrügen sich selbst, indem sie ihre Realität künstlich verändern. Einst lag das Problem der Drogensucht offen zutage. Heute ist es nicht mehr so sichtbar, aber es ist keineswegs behoben. Viele suchtkranke Menschen wohnen in therapeutischen Gemeinschaften und werden betreut. Und diese Menschen sind nicht bloss die tragischen Sonderfälle einer sonst kerngesunden Gesellschaft. Vielmehr wird in ihnen eine allgemeine Neigung unserer ganzen Kultur deutlich: Wir neigen dazu, die Probleme und Belastungen von heute in die Zukunft zu verschieben, um Leidenserfahrungen zu vermeiden.
Warum ist das so? Einerseits weil wie uns nicht zutrauen, das Leiden zu ertragen, und anderseits weil wir bei der Vermeidung von Leidenserfahrungen bereits derart viel erreicht haben. Wir möchten noch mehr erreichen. Aber wir gehen ein hohes Risiko ein, nämlich die Grenzen, die das Leben setzt, zu missachten und zu überspielen. Angefangen bei den Schwankungen der Wirtschaft. Rezessionen werden heute als Drama oder Krise wahrgenommen. Dabei gibt’s nichts Normaleres als Schwankungen. Die Bibel hat dem auf einfache Weise Ausdruck verliehen in der Geschichte vom Traum des Pharao: Zuerst sieben fette Kühe, dann sieben magere, und die mageren frassen die fetten auf. Josef deutete den Traum treffend als Hinweis auf sieben gute und sieben schlechte Jahre. Nichts weiter als wirtschaftliche Schwankungen. Wer vorsorgte konnte überleben.
Heute versucht man die Flauten zu überbrücken, indem man die Wirtschaft mit Papiergeld überflutet. Damit verschiebt man die wirtschaftliche Schrumpfung in die Zukunft – mit Nebenwirkungen: Das Geld verliert an Wert und die Verteilkämpfe werden härter. Auch moralische Werte werden weggeschwemmt, wenn Sparer enteignet und Schuldner belohnt werden. Die Leidensscheu und das Lustprinzip prägen auch die Erziehung, und zwar nicht zum zum ersten Mal. Der Schriftsteller Stefan Zweig schrieb über die Verhältnisse in den Zwanziger Jahren: „Eine vollkommen neue Welt, eine ganz neue Ordnung, sollte auf jedem Gebiete des Lebens beginnen. Statt wie vordem mit ihren Eltern zu reisen, zogen elfjährige, zwölfjährige Kinder in organisierten und sexuell gründlich instruierten Scharen als Wandervögel durch das Land bis nach Italien und an die Nordsee. In den Schulen wurden nach russischem Vorbild Schülerräte eingesetzt, welche die Lehrer überwachten, der Lehrplan umgestoßen, denn die Kinder sollten und wollten bloss noch lernen, was ihnen gefiel.“ (Die Welt von gestern). Diese Irrwege bildeten den Keim für gesellschaftlichen Verfall, Führergläubigkeit, Hass und Krieg. Schon damals waren Leidensscheu und Lustgewinn das Kernproblem.
„Christus wurde durch das, was er litt, zur Vollendung gebracht“, so der Hebräerbrief. Wenn Gott sich so deutlich auf Einbussen und Leidenserfahrungen einlässt, so kann das nur bedeuten, dass diese zum Leben gehören. Und es gibt sogar Menschen, die von sich erzählen, ihre Leidenserfahrungen hätten sie weitergebracht, so der russische Schriftsteller Solschenizyn nach sieben Jahren in Stalins Gefangenenlager: „Sei gesegnet, Gefängnis, dass du in meinem Leben gewesen bist.“
Niemandem sind solche Erfahrungen zu wünschen. Aber sie sind der Schlüssel zur Vollendung und Erfüllung. „Christus, lernte an dem, was er litt, den Gehorsam. Dadurch wurde er zur Vollendung gebracht und ist zum Urheber ewigen Heils geworden.“ – Es geht nicht darum, Leidenserfahrungen künstlich herbeizuführen. Es geht darum, dass wir diejenigen, die uns treffen, hinzunehmen versuchen – was ja unzählige Zeitgenossen tatsächlich tun. Ohne Einbussen kein wahrhaftiger Gewinn. Dietrich Bonhoeffer hat es in seinem Morgengebet, wenige Monate vor seiner Hinrichtung, so gesagt: „Vater im Himmel, Lob und Dank sei Dir für die Ruhe der Nacht; … für den neuen Tag. Du hast mir viel Gutes erwiesen, lass mich nun auch das Schwere aus Deiner Hand hinnehmen. Du wirst mir nicht mehr auflegen, als ich tragen kann. Du lässt Deinen Kindern alle Dinge zum Besten dienen.“ Darin steckt ein Anklang an Hiob, der zu seiner Frau sagte: Das Gute nehmen wir an von Gott, und das Böse sollten wir nicht annehmen?
Karfreitag und Tod haben nicht das letzte Wort. Die Auferstehung und Vollendung ohne Leiden, Geschrei und Schmerz, ist uns von Gott verheissen. Wir haben also keinen Grund, die Vollendung hier und jetzt zu erzwingen. Wo die Menschen Vollendung und masslosen Lustgewinn erzwingen wollten, gab es immer einen Murks und später umso mehr Einbussen, Verluste und Niedergänge. Deshalb lasst uns die Lasten tragen, zuerst die eigenen und dann auch füreinander. Gott wird uns nicht mehr aufladen, als wir zu tragen vermögen.
Erschienen im Zürcher Bote zu Ostern 2010

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