Heiligkeiten

Jerusalem, Jerusalem, die du tötest die Propheten und steinigst, die zu dir gesandt sind! (Matthäus 23,37) – Der König Salomo errichtete den Tempel als Gottes Wohnort und machte Jerusalem zur «Gottesstadt». Und nun dies: Jerusalem tötet die Propheten. Das ist eine Kritik an Juden und an Christen. Sie zeigt, dass die Heiligkeit weder an Kultorte noch an Personen gebunden ist. Das «Heilige» kann jederzeit vom Menschen missbraucht und von Gott verworfen werden. Nichts dagegen, wenn Gläubige einen geschichtsträchtigen Ort aufsuchen. Aber Machtspiele haben im Heiligen keinen Platz.
Dem heiligen Jerusalem folgte das heilige Rom, dann Konstantinopel und schliesslich Moskau als «drittes Rom». Nach dem Ende der Sowjetunion saugte das geistige Vakuum die Inhalte der orthodoxen Kirche auf. Dem orthodoxen Herrschaftsideal entspricht die Machtkonzentration bei Putin. Im Jahr 2011 erhielt das militärische Kommandosystem vom Patriarchen Kirill eine religiöse Weihe: Der Diensteid befreie die Soldaten von jeglicher moralischer Verantwortung. Sie müssten die Befehle ausführen, und die Kirche müsse ihnen dabei helfen. Für Alexander Dugin beginge Russland ein schlimmeres Verbrechen als einen Genozid, würde es auf die Ausweitung seiner Grenzen und seiner Wahrheit verzichten. Der Blogger Alexandrov_G mit seinen religiös-imperialen Phantasien weiss: «Gott ist mit uns.» Für den Filmregisseur und Priester Iwan Ochlobystin «ist der Russe geboren, entweder Held oder Heiliger zu sein.» Eine umfangreiche Bestandesaufnahme bietet der St.Galler Slawistikprofessor Ulrich Schmid in seinem Buch vom Verfertigen der Wahrheit in der russischen Gegenwartskultur (Suhrkamp 2015). Für Russland und die Welt wäre es heilsam, sich daran zu erinnern, dass Moskau so unheilig ist wie Jerusalem, Rom und Istanbul.
Weltwoche 12/2022

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