Feindschaft

Rette mich vor meinen Feinden, mein Gott, vor meinen Widersachern beschütze mich. Rette mich vor den Übeltätern, und hilf mir vor den Mördern. (Psalm 59,2f) – Würde ich eine Umfrage zum Stichwort Feindschaft in der Bibel machen, bekäme ich wohl hauptsächlich den Satz Jesu zu hören: Liebt eure Feinde. (Matthäus 5,44) Entsprechende Ansätze gibt es auch im Alten Testament (Exodus 23,4f). Im Aramäischen ist die Feindschaft sprachlich mit dem Hass verknüpft, während das hebräische Wort nur selten den persönlichen Feind bezeichnet. Es meint gewöhnlich die politisch-militärischen Feinde des ganzen Volkes. Solche gibt’s, und die Armee soll als Versicherung gegen sie wirken.
Wer im Ukrainekrieg den Weg sucht zwischen Feindesabwehr und Feindesliebe, bewegt sich in einem Irrgarten. Der Krieg erzwingt eine Schwarz-Weiss-Malerei, und diese widerspricht dem biblischen Menschenbild. Sowohl die kompromisslose Verteidigung gegen den russischen Angreifer als auch die Achtung vor den russischen Menschen müssen zum Zug kommen. Wie schwer dieser Widerspruch auszuhalten ist, zeigen die wortreichen Versuche zur Austarierung: Die Ukraine habe Fehler gemacht. Als ob die Alliierten bei der Befreiung des besetzten Frankreich 1944 über dessen Torheiten (die sehr gravierend waren) gefaselt hätten. Oder der Westen habe Russland «gedemütigt». Was hat diese Worthülse aus der Psychotherapie hier zu suchen, wenn Städte plattgebombt, Menschen massakriert und deportiert werden? Vielleicht war es der grösste Fehler, die Ukraine nicht die Nato aufzunehmen, denn Russland hat seit 1990 kein Nato-Mitglied angegriffen. Im Konflikt zwischen den biblischen Begriffen Frieden und Freiheit gibt es keine Patentlösung. Aber ein Frieden ohne Freiheit dürfte langfristig noch grösseres Leid erzeugen als der gegenwärtige Krieg.
Weltwoche 24/2022

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