Und denke daran, dass du Sklave gewesen bist im Land Ägypten. (Deuteronomium 5,15) – Der Auszug aus der Sklaverei und die Hinführung in ein Dasein, wo der einzelne Mensch seine Würde bekommt, ist die Schlüsselerzählung des Judentums und sein Geschenk an die Menschheit. Ein Leben ohne Sklaverei ist nicht selbstverständlich und kann wieder verloren gehen. Die Menschenrechte entstanden als Antithese zur Sklaverei, die seit Jahrtausenden in vorstaatlichen Gesellschaften und in Hochkulturen ihr Wesen treibt. Ihre beiden Grundformen lassen sich an der Moderne zeigen: Im stalinistischen Gulag wurden mehrere Millionen Menschen deportiert und zur unbezahlten Arbeit gezwungen. Unzählige starben oder wurden getötet. In den NS-Konzentrationslagern wurden die Opfer der politischen Repression und kriegerischen Unterwerfung sowie ganze Volksgruppen versklavt, letztere zum Zweck der Ausrottung. Von solcher Staatssklaverei unterscheidet sich die persönliche Unfreiheit in Form von Vertrags- und Schuldknechtschaft, Kinderhandel und Zwangsprostitution.
Auch im Alten Israel gab es Sklaven, doch tendierte das Sklavenrecht zur humanitären Behandlung. «Sklave» (hebräisch Äbäd) bedeutet zugleich Diener, Offizier, Beamter oder Minister. Andererseits gibt es Kulturen nach dem ägyptischen Modell. Russland raubte den Menschen jahrhundertelang ihre Würde, und die russische Staatskirche hiess es gut. Stalin erklärte in den dreissiger Jahren die Sowjetunion zur Heimat des Antifaschismus und beanspruchte damit das Monopol des Guten. Er trieb rund fünf Millionen Menschen – ohne die Kriegsopfer – in den Tod durch Erschiessen, Erschöpfung, Hunger. Die «Nazibekämpfung» dient auch Putin als Begründung des Krieges. Deportationen sind zu befürchten. Die Ukraine ist nicht perfekt, kämpft jedoch auf der richtigen Seite.
Weltwoche 21/2022