Voller Gefühle

Heute hast du wahrlich zu verstehen gegeben, dass Anführer und Diener dir nichts bedeuten. Ja, heute habe ich erkannt: Wenn Absalom noch lebte und wir alle heute tot wären, dann wäre es recht in deinen Augen. (2. Samuel 19,7) – Der König David hatte mehrere Söhne. Absalom war der rechtmässige Thronfolger, fürchtete jedoch, der Vater könnte ihn zugunsten von Salomo herabsetzen. Deshalb zettelte er einen Aufstand an, um die Königswürde vorzeitig an sich zu reissen. Dadurch verlor er allerdings die Zuneigung Joabs, seines wichtigsten Unterstützers am Hofe. In den Bürgerkriegswirren zwischen seinen und seines Vaters Truppen tötete Joab ihn eigenhändig. Als David vom Tod seines Sohnes erfuhr, trauerte und weinte er tagelang. Das machte seine Getreuen missmutig, hatten sie doch ihr Leben riskiert, um um den Staatsstreich Absaloms zu verhindern. Daher ihr obiger Vorwurf an ihn.
Diese Geschichte ist ein Lehrstück für die Unvereinbarkeit der persönlichen Gefühle mit den Erfordernissen der Politik. Dass die Vaterliebe des Staatsoberhaupts mit dem Aufruhr des Sohnes zusammenprallt, ist ein Extremfall. Doch die Vermengung von persönlichen Empfindungen mit dem öffentlichen Auftrag ist gang und gäbe geworden. Die Sympathie von Bundespräsident Cassis zu den Ukrainern hat ihn dazu verleitet, Selensky als «my friend» anzusprechen. Das ist ein Übergriff der Gefühle auf die Politik. Das gleiche geschah mit Sommarugas Teilnahme an einer Ukraine-Demo «nur als Privatperson». Und nun wollen manche Politiker und Medien aufgrund ihres Bauchgefühls die Schweiz in die Nato führen. Bisher war es vor allem die Eigenart von Autokraten, ihre Gefühle zur Staatsräson hochzustemmen und aller Welt aufzudrängen. Wer die Fassung verliert, könnte auch die Verfassung und den Rechtsstaat aus den Augen verlieren.
Weltwoche 16/2022

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