Antisemitisch links

Nichts, was von aussen in den Menschen hineingeht, kann ihn unrein machen, sondern was aus dem Menschen herauskommt, das ist es, was den Menschen unrein macht. (Markus 7,15) – Dieser Satz Jesu bezieht sich auf die Juden. Die Pharisäer hatten beanstandet, dass die Jünger die Reinigungsvorschriften nicht einhielten. Ich müsste allerdings ein plumper Fundamentalist sein, wenn ich den Satz unverändert auf die Juden bezöge. Er zielt vielmehr auf Menschen, die sich für unbefleckt halten und der Abgrenzung gegen alles, was sie verunreinigen könnte – auch gegen andersdenkende Menschen -, ihr grösstes Augenmerk schenken. Das muss nicht mit Göttern zu tun haben. Auch Meinungen und Weltanschauungen können zur Religion werden. Dabei ergeben sich oft menschenfeindliche Nebenwirkungen, wie bei den Pharisäern zur Zeit Jesu.
In diese Falle ist nun die britische Labour-Partei getappt. Ihre Führung betrachtet die Geschichte als Geschichte von Klassenkämpfen. Sie teilt die Welt in Unterdrückte und Unterdrücker ein. In Reine und Unreine. Dieses marxistische Geschichtsbild war ein hilfreicher Schlüssel zum Verständnis des 19. Jahrhunderts. Seit spätestens 1917 passt er in kein Loch mehr. Zu den Unreinen in Corbyns Gedankenwelt gehören die Kapitalisten, die Geschäftemacher und die Juden. Hier wurzelt der linke Antisemitismus. Er ist nicht neu. Vor 50 Jahren wies der Schriftsteller Jean Améry darauf hin, dass die Linken dieses Denkmuster auf Israel und die Palästinenser übertragen. Mit «Zionismus» meinten sie etwa das gleiche wie die Nazis mit «Weltjudentum». Und ich erinnere mich, dass zu meiner Studienzeit der Studentenreisedienst SSR alle Destinationen anbot – nur nicht Israel.
Die jüdische Publizistin Juliet Samuel gab nach der Unterhaus-Wahl ihrer Freude im Daily Telegraph unverhohlenen Ausdruck. Dabei ging es ihr weder um rechts oder links noch um den Brexit. Es gibt ehrenwerte Linke, und beim Brexit können anständige Menschen dagegen oder dafür sein. Beim Antisemitismus nicht.
Weltwoche 1/2020

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