Wer einen Menschen raubt, ob er ihn verkauft hat oder ob er sich noch in seiner Hand befindet, muss getötet werden. (Exodus 21,16) – Die Todesstrafe war über Jahrtausende ein Bestandteil der Strafrechtssysteme. Fjodor Dostojevskij beschreibt, wie er zum Tode verurteilt, auf die Hinrichtungsstätte geführt, mit einem weissen Totenhemd eingekleidet – und in letzter Minute vom Zar begnadigt wurde. Die Abschaffung der Todesstrafe begann mit der Aufklärung und wurde gegen zähe Widerstände durchgesetzt, leider auch der Kirchen, obwohl Jesus den Weg dahin gewiesen hatte (Joh 8). Die Todesstrafe ist nahezu immer falsch. Gleichwohl braucht jede Gesellschaft ein Strafsystem mit der Härte des Gesetzes, um die arglose Mehrheit gegen eine aggressive Minderheit zu schützen. Mit der Strafverfolgung und dem Vollzug tut der Staat allerdings das gleiche wie die Verbrecher: Gewaltanwendung, Freiheitsberaubung, im Extremfall Tötung. Deshalb erfordert die Ausübung des Gewaltmonopols die höchste Disziplin und Kontrolle. Sie hat streng nach dem Gesetz zu erfolgen, und die Würde aller Beteiligten ist im biblischen Sinne zu wahren.
Die Verhältnismässigkeit im Strafrecht ist seit einiger Zeit im Rutschen. Das Bezirksgericht Zürich verschonte einen irakischen Straftäter vor dem Landesverweis, weil sein behinderter Sohn im Irak nicht geschult werden könne. Ein Waadtländer Gericht sprach Hausfriedensbrecher frei, weil sie edle Motive gehabt hätten. In Deutschland wurde die Politikerin Renate Künast öffentlich als «Drecksfotze» und schlimmer beschimpft, und muss dies gemäss Gerichtsentscheid hinnehmen. Der moderne Wohlfahrtsstaat laviert zwischen der Barmherzigkeit gegenüber Angeklagten und seinem ureigensten Auftrag – dem Schutz der Menschen im Innern und gegen aussen. Ein Staat kann und darf jedoch nicht barmherzig sein. Die Frage stellt sich sogar, ob ein Rechtsstaat zugleich Sozialstaat sein kann. Zumindest besteht ein Risiko, dass er sowohl die Barmherzigkeit als auch das Recht zugrunde richtet.
Weltwoche 6/2020