Gesund werden
Als Jesus diesen liegen sieht und erkennt, dass er schon eine lange Zeit leidet, sagt er zu ihm: Willst du gesund werden? (Johannes 5,6) – Die Frage, ob einer nach 38 Krankheitsjahren gesund werden will, tönt fast zynisch. Gesund bleiben oder werden will jede und jeder. Deshalb haben wir in den vergangenen Wochen einschneidende hygienische Massnahmen in Kauf genommen. «Hygieia» ist der griechische Ausdruck für Gesundheit. Der Wortstamm kommt im Neuen Testament (NT) rund 25 mal vor. Interessanterweise kennt die hebräische Sprache kein entsprechendes Wort. Im Alten Testament (AT) wird die Gesundheit dem Leben und dem Frieden (Schalom) zugeordnet. Gesund ist das einigermassen unversehrte Leben vor Gott. Auch im NT ist die Gesundheit kein eigenständiges Gut. Jesus bezeichnet sich zwar als Arzt und heilt Kranke (Mk 2,17), doch weist er damit über die Heilung hinaus aufs göttliche Heil. Erst in der ausserbiblischen Schrift Jesus Sirach wird die Gesundheit zum Thema. In der Bibel sind die Erwartungen an sie bescheiden. Und noch im 19. Jahrhundert waren Schmerzen treue Begleiter. Dass wir davon befreit sind, ist erfreulich.
Aber es gibt auch einen medizinischen und gesundheitspolitischen Totalitarismus. Er deutet krank und gesund als schwarz und weiss und scheut kein Mittel, alles Schwarze oder auch bloss Graue zu vertreiben. Das deutsche Wort gesund gibt dazu keinen Anlass. Es hängt mit geschwind zusammen und meint ursprünglich stark, heftig, rasch, klug. Manche Menschen sind jahrelang mit Krankheiten geschlagen und sind dennoch klug, rasch, heftig und stark. Vollkommen gesund ist niemand. Ein Internist prägte das Bonmot, gesund sind nur Menschen, die noch nicht hinreichend untersucht wurden. Wer die Prävention zum Lebensinhalt erhebt, stirbt irgendwann kerngesund – und ist trotzdem tot. Klüger ist es, hartnäckige Krankheiten vertrauensvoll hinzunehmen. Für krank sein verfügt das Hebräische über ein spezielles Wort. Mehr darüber in der nächsten Bibelkolumne.
Krank sein
Nach diesen Begebenheiten sagte man zu Josef: Sieh, dein Vater ist krank. (Genesis 48,1) – Bei der Bibelauslegung kann manchmal die Sprachanalyse den Weg weisen. So beim hebräischen Verb chalah, krank sein. Im Gegensatz zu den allermeisten biblisch-hebräischen Wörtern hat es keine Entsprechung in den anderen semitischen Sprachen. Hinzu kommt, dass es im Alten Testament als einziges intransitives Verb in sämtlichen Stammformen auftritt. Die Bibel tabuisiert also die Krankheit nicht. Im Gegenteil: Sie bringt den kranken Menschen ein besonderes Interesse entgegen. Sogar der Erzvater Jakob wurde krank! Das hebräische Kranksein hat eine Bandbreite von Verwundungen im Krieg über Erkrankungen bis zum Liebespaar, das vor lauter Liebe krank ist (Hoheslied 5,8). Grundsätzlich handelt es sich um einen körperlichen oder seelischen Schwächezustand. Ein solcher war logischerweise unerwünscht (ausser bei Verliebten) und weckte die Frage nach Gott und seinen Absichten. Zugleich versuchte man, die Krankheiten zu bekämpfen. Manche kultischen Regeln dienten diesem Zweck, so der Ruhetag, Speisegebote, Quarantäne für Aussätzige, Sexualgebote, Reinigungsvorschriften für Körper und Kleider.
Erst die Neuzeit vermochte Krankheiten nachhaltig aus dem Feld zu schlagen. Leider tun die Krankheitserreger das biologisch Natürlichste: Sie liefern uns Menschen ein Wettrüsten. Ich schliesse daraus, dass wir auch in den kommenden Jahrtausenden mit Krankheiten koexistieren werden. Die Abwehrmassnahmen obliegen primär dem Einzelnen. Das geht leicht vergessen, seitdem das Gesundheitswesen nahezu verstaatlicht und nicht zuletzt dadurch enorm verteuert wurde. Die Gesundheitsausgaben sind seit 1960 nominal von 2 auf 80 Milliarden Franken gestiegen. Mit der Zuständigkeit des Staates wächst auch seine Befehlsgewalt über die Bürgerinnen und Bürger. Werden sie zu Untertanen? Als solche würde sich ihr Rücken krümmen. Krumm und krank gehören zur gleichen Wortgruppe. Auch Gesundheitssysteme können krank machen.
Weltwoche 20 und 21/2020