Existentielle Fitness

Denn die körperliche Ertüchtigung ist für weniges gut, die Frömmigkeit hingegen ist für alles gut. (1. Timotheus 4,8) – Das erinnert an den Unterschied zwischen einer schlanken Sportlerin im Fitness-Studio und einem dickwanstigen Pfaffen am Altar. Dieses Klischee ist aber nicht das Thema, und das Adverb «hingegen» ist ohnehin zu stark. Besser wäre die Wendung «…während die Frömmigkeit für alles gut ist». Die Frömmigkeit heisst griechisch Eusebeia, ist kein verklärter Augenaufschlag, sondern eine respektvolle Haltung gegenüber sich selbst, den Mitmenschen und gegenüber Gott. Diese Haltung, so Paulus, ist für alles gut. Sie macht zum Leben tauglich, und das heisst ja auf englisch fit. In meiner Wohngemeinde mit 15.000 Einwohnern gibt es fünf Fitness-Studios. Ich gehe auch hin, und es tut mir gut. Die körperliche Ertüchtigung ist heute weit verbreitet. Meine Grosseltern hätte ich mir nie im Fitness-Studio vorstellen können.
Weniger Aufmerksamkeit geniesst die Eusebeia. Sie ist eine geistige und existentielle Fitness. Auch sie lässt sich stärken, ist aber weder durch Gewichte noch mit der Stoppuhr messbar. Sie befähigt dazu, Belastungen zu ertragen und durchzuhalten. Sie beginnt damit, sich und sein Dasein in grösseren Zusammenhängen zu betrachten und deshalb über das Tagesgeschehen weniger zu erschrecken. Mir scheint, viele Zeitgenossen könnten etwas mehr davon gebrauchen. Was sie in immer kürzeren Abständen aufwühlt, sind im weiten Horizont blosse Ausschläge der Normalität. Und die Beunruhigung durch stets neue «Krisen» macht Menschen manipulierbar. Einen Lockdown mit allem drum und dran hätte man vor 40 Jahren nicht hingenommen. Wir brauchen mehr Frömmigkeit. «Fromm» heisst übrigens in seiner Grundbedeutung nützlich und tapfer, befindet sich also ganz nahe bei der Fitness.
Weltwoche 23/2022

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