Mein Erlöser

Ich weiss, dass mein Erlöser lebt. (Hiob 19,25) – Unlängst hörte ich ein Interview mit dem Molekularbiologen Beda Stadler. Seine Artikel lese ich immer gerne. Stadler hatte in seiner Kindheit eine Überdosis Religion bekommen und war dann zum Atheisten geworden. Weil ich die Schwachstellen der Kirchen kenne, habe ich Sympathien für Atheisten, besonders wenn sie, wie Stadler, auf Spott und Hochmut verzichten. Stadler wies zu Recht darauf hin, dass die Menschheit bereits enorme Verbesserungen in der Forschung wie auch in der Organisation der friedlichen Gesellschaft erzielt habe, und dass er auf weitere Fortschritte hoffe. An dieser Stelle gewann ich den Eindruck, dass Stadler dem Philosophen Johann Gottlieb Fichte nahesteht. Fichte entwarf vor gut 200 Jahren die Idee vom absoluten Wissen, das in allem Wissen enthalten sei, und das die Voraussetzung für ein absolutes Sein ist. Von hier aus ist die Erlösung zu erwarten, und Fichtes Religionsphilosophie trug den Titel «Die Anweisung zum seligen Leben». Der Mensch erlöst sich durch den Zuwachs seines Wissens und seiner ethischen Gesinnung. Fichte erlebte den Fortschritt nicht mehr. Dieser brachte ungeahnten Wohlstand, Komfort und Sicherheit, nicht nur für die Reichen. Als schwarzer Schatten lief freilich auch der Massenmord mit. Und dieser geschah jeweils ausgerechnet im Namen von Erlösungsphantasien. Die Ethik, auch wenn sie heute jede Debatte durchtränkt, hält mit der Technik nicht Schritt. Der Bibelvers aus dem Buch Hiob ist deshalb ein Wegweiser von der Illusion zur Realität. Er wurde von G.F.Händel wundervoll vertont. Für den Anfang genügt es, zu wissen, dass die Erlösung von aussen kommen muss. Das verschafft gegenüber den menschlichen Erlösungsplänen die Immunität, die ein friedliches Zusammenleben am ehesten ermöglicht.
Weltwoche 26/2022

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